
Iran: Repressionswelle, insbesondere gegen Minderheiten, nach Kampfhandlungen mit Israel
3. September 2025Nach dem Waffenstillstand mit Israel verschärft der Iran die Repressionen im eigenen Land – besonders religiöse Minderheiten stehen unter massivem Druck. Amnesty International und Human Rights Watch warnen vor gezielten Menschenrechtsverletzungen und fordern die internationale Gemeinschaft zu konsequenter Strafverfolgung der Verantwortlichen auf.
Seit dem 13. Juni haben die iranischen Behörden mehr als 20.000 Personen festgenommen, darunter Dissident*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Nutzer*innen von Social Media, Familien von Personen, die bei landesweiten Protesten rechtswidrig getötet wurden, sowie ausländische Staatsangehörige. Ins Visier genommen wurden auch Afghan*innen, Angehörige der belutschischen und kurdischen ethnischen Minderheiten sowie Angehörige religiöser Minderheiten wie Christ*innen, Jüd*innen oder Baha’i.
Während die Menschen sich nur mühsam von den verheerenden Auswirkungen des bewaffneten Konflikts zwischen dem Iran und Israel erholen, gehen die iranischen Behörden mit erschreckender Härte vor.
Sara Hashash, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
Sara Hashash, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, sagt zudem:
„Die Repressionsmaschinerie der Behörden bleibt unerbittlich, und es erfolgt eine weitere Verschärfung der ohnehin schon umfassenden Überwachung, Massenfestnahmen und Anstiftung zu Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt gegen Minderheiten.“
Sicherheitskräfte haben Personen an verschiedenen Fahrzeugkontrollpunkten getötet, darunter auch ein dreijähriges Mädchen. Regierungsangehörige und dem Staat nahestehende Medien haben ein beschleunigtes Verfahren für Hinrichtungen gefordert und sich zum Teil für eine Wiederholung der Massaker von 1988 in Gefängnissen ausgesprochen. Damals hatten hochrangige Staatsbedienstete die summarische und außergerichtliche Hinrichtung Tausender politischer Gefangener angeordnet. Mindestens neun Männer wurden auf der Grundlage politisch motivierter Anklagen und/oder wegen der Spionage für Israel hingerichtet. Ein im Beschleunigungsverfahren eingereichter Gesetzentwurf, der eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Todesstrafe mit sich bringt, wartet auf seine endgültige Verabschiedung.
Seit Juni hat sich die Menschenrechtslage im Iran weiter verschärft, weil die iranischen Behörden Dissident*innen und Minderheiten als Sündenböcke für einen Konflikt ins Visier nehmen, mit dem diese nichts zu tun haben“, so Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch.
Das harte Vorgehen der iranischen Behörden gegen ein Volk, das noch immer unter den Folgen des Krieges leidet, lässt eine drohende Menschenrechtskatastrophe befürchten, insbesondere für die am stärksten marginalisierten und verfolgten Gruppen des Landes.
Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch
Die iranischen Behörden müssen unverzüglich ein Moratorium für Hinrichtungen verhängen, mit dem Ziel, die Todesstrafe ganz abzuschaffen, sie müssen alle willkürlich inhaftierten Personen freilassen und sicherstellen, dass alle anderen Inhaftierten vor dem Verschwindenlassen sowie vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden. Andere Länder müssen Verbrechen unter dem Völkerrecht, die von den iranischen Behörden begangen wurden, nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit untersuchen und strafrechtlich verfolgen, fordern Amnesty International und Human Rights Watch.
Willkürliche Festnahmen und alarmierende Forderungen nach beschleunigten Gerichtsverfahren und Hinrichtungen
Der iranische Geheimdienst und die Sicherheitskräfte begannen innerhalb weniger Tage nach der Eskalation der Kampfhandlungen mit Israel mit Massenfestnahmen unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit. Gholamhossein Mohseni Eje’i, Oberste Justizautorität des Iran, kündigte am 22. Juli an, dass Personen, die, wie er es formulierte, „mit Israel kooperiert hatten“, mit harten Strafen zu rechnen hätten, auch mit der Todesstrafe. In einer Erklärung vom 12. August gab Saeed Montazer Al-Mahdi, Sprecher der Polizei, bekannt, dass etwa 21.000 Personen festgenommen wurden.
Hochrangige Staatsbedienstete fordern eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren und Hinrichtungen von Personen, die feindliche Staaten „unterstützen“ oder mit ihnen „kollaborieren“. Staatliche Medien haben sich für eine Wiederholung der Massaker von 1988 in Gefängnissen ausgesprochen, darunter auch in einem Artikel der Nachrichtenagentur Fars, in dem es heißt, dass „die Söldnerelemente […] Hinrichtungen im Stil von 1988 verdienen“. Die Justiz hat außerdem die Einrichtung von Sondergerichten zur Strafverfolgung von „Verrätern und Söldnern“ angekündigt. Das Parlament hat im Eilverfahren ein Notstandsgesetz auf den Weg gebracht, das noch der endgültigen Zustimmung durch den Wächterrat bedarf und die Anwendung der Todesstrafe ausweiten würde, unter anderem für vage formulierte Anklagen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit wie „Zusammenarbeit mit feindlichen Regierungen“ und „Spionage“.
Laut Amnesty International und Human Rights Watch sind Inhaftierte einem ernsthaften Risiko von Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen, unfairen Gerichtsverfahren und willkürlichen Hinrichtungen ausgesetzt.
Verstärkte Unterdrückung ethnischer Minderheiten
Die Behörden haben das Klima nach dem Konflikt auch als Rechtfertigung dafür genutzt, noch härter gegen unterdrückte ethnische Minderheiten vorzugehen.
Amnesty International hat dokumentiert, dass Sicherheitskräfte in der Provinz Sistan und Belutschistan am 1. Juli bei einer Razzia im Ort Gunich zwei Frauen aus der unterdrückten ethnischen Minderheit der Belutsch*innen im Iran rechtswidrig getötet haben. Eine Primärquelle berichtete der Organisation, dass Sicherheitskräfte mit Metallkugeln und scharfer Munition auf eine Gruppe von Frauen geschossen hätten, wobei eine Frau, Khan Bibi Bamri, noch am Tatort getötet und eine weitere, Lali Bamri, tödlich verletzt wurde. Lali Bamri starb später im Krankenhaus. Mindestens zehn weitere Frauen wurden verletzt. Die Sicherheitskräfte gaben widersprüchliche Begründungen für die Razzia an und behaupteten, es seien eine „terroristische Gruppe“, „Afghanen“ und „israelische Kräfte“ anwesend gewesen. Von Amnesty International geprüftes Videomaterial des Zwischenfalls zeigt uniformierte Angehörige der Revolutionsgarden, die Schusswaffen auf die Frauen gerichtet haben, während mehrere Schüsse zu hören sind.
Am 25. Juni gaben staatliche Medien bekannt, dass landesweit mehr als 700 Personen wegen der vermeintlichen Zusammenarbeit mit Israel festgenommen wurden. Ihnen zufolge waren die Provinzen Kermanshah und Chuzestan, in denen ethnische Minderheiten wie Kurd*innen und Ahwazi leben, unter den Provinzen mit der höchsten Zahl an Festnahmen. Der Menschenrechtsorganisation Kurdistan Human Rights Network zufolge hatten die Behörden bis zum 24. Juli mindestens 330 Angehörige der kurdischen Minderheit festgenommen. Die Behörden starteten außerdem eine massive Festnahme- und Abschiebungsaktion gegen Afghan*innen, bei der diese willkürlich festgenommen und in den staatlichen Medien diffamiert wurden.
Religiöse Minderheiten unter Druck: Verschärfte Maßnahmen gegen Baha’i, Christen und Juden
Die Behörden haben die Verschärfung der Sicherheitslage auch dazu genutzt, die Unterdrückung religiöser Minderheiten zu verstärken. Angehörige der Baha‘i-Minderheit wurden im Rahmen einer staatlichen Propagandakampagne, die zu Feindseligkeit, Gewalt, Diskriminierung und Desinformation aufrief, verstärkt ins Visier genommen und zu Unrecht beschuldigt, als Spion*innen und Kollaborateur*innen Israels tätig zu sein. In einer Stellungnahme vom 28. Juli bezeichnete das Geheimdienstministerium die religiöse Minderheit der Baha‘i als „zionistische Sekte“. Am 18. Juni beschuldigte das den Revolutionsgarden nahestehende Nachrichtenorgan Raja News die Bahá'í, „Handlanger und Spione Israels“ zu sein.
Wie Recherchen von Amnesty International und Human Rights Watch zeigen, bestehen die gegen Baha’i ergriffenen Maßnahmen aus willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen, Verhören, Wohnungsrazzien, der Beschlagnahmung von Eigentum und der Schließung von Unternehmen.
In einem Fall berichtete eine gut informierte Quelle den beiden Organisationen, dass der 66-jährige Mehran Dastoornejad am 28. Juni bei einer Razzia in seinem Haus in Marvdascht in der Provinz Fars von Sicherheitskräften festgenommen wurde, nachdem sie ihn geschlagen und sein Hab und Gut beschlagnahmt hatten. Die Behörden verwehrten dem von seiner Familie beauftragten Rechtsbeistand den Zugang zu ihm und jegliche Informationen über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Mehran Dastoornejad wurde am 6. August gegen Kaution aus dem Gefängnis von Shiraz in der Provinz Fars entlassen. Eine andere Quelle berichtete Human Rights Watch, dass die Eheleute Noyan Hejazi und Leva SamiI am 25. Juni bzw. 7. Juli in der Provinz Mazandaran festgenommen und ihnen bis zu ihrer Freilassung gegen Kaution am 3. August der Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert wurde.
Ende Juni luden die iranischen Behörden mindestens 35 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Shiraz und Teheran vor. Nach Informationen des außerhalb des Iran ansässigen Menschenrechtsorganisation Human Rights in Iran wurden sie zu ihren Verbindungen zu Verwandten in Israel befragt und davor gewarnt, den Kontakt zu diesen aufrechtzuerhalten.
Trotz anfänglicher Dementis der staatlichen Medien bestätigten Beiträge auf dem Telegram-Kanal des jüdischen Parlamentsabgeordneten Homayoun Sameyeh Najafabadi von Ende Juli und Anfang August, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft Irans in drei Provinzen festgenommen und mehrere von ihnen wegen nicht näher bezeichneter Vorwürfe vor einem Revolutionsgericht in Teheran angeklagt wurden. Aus den Beiträgen ging hervor, dass die in Teheran Festgenommenen wegen Spionage angeklagt worden waren, diese Anklagen jedoch fallen gelassen wurden.
Das Geheimdienstministerium beschuldigte in einer Erklärung vom 28. Juli auch Teile der christlichen Gemeinschaft, „Söldner des Mossad“ mit Verbindungen zu Israel zu sein, und die staatlichen Medien sendeten am 17. August „Geständnisse“ von inhaftierten Christ*innen, was Befürchtungen aufkommen ließ, dass diese unter Folter erzwungen wurden. Am 24. Juli berichtete eine Menschenrechtsgruppe außerhalb des Iran von der Festnahme von mindestens 54 Christ*innen seit dem 24. Juni 2025.
Rechtswidrige tödliche Gewalt an Sicherheitskontrollpunkten
Die seit dem Konflikt im Juni eingerichteten Fahrzeugkontrollpunkte sind zu einem weiteren Instrument der Unterdrückung geworden. Berichten staatlicher Medien zufolge haben die Behörden übergriffige Fahrzeug- und Mobiltelefonkontrollen durchgeführt und Menschen wegen „Kollaboration“ mit Israel festgenommen, oft allein aufgrund von Beiträgen in Sozialen Medien auf ihren Mobiltelefonen. Die Kontrollpunkte wurden auch genutzt, um „nicht autorisierte“ Staatsangehörige festzunehmen, ein diskriminierender Begriff, den die Behörden für Afghan*innen verwenden.
Medienberichten zufolge erschossen Sicherheitskräfte in Tarik Darreh in der Provinz Hamedan zwei Personen und verletzten eine dritte unter dem Vorwand, sie seien vor den Kontrollpunkten geflohen. In einer Erklärung vom 2. Juli sagte Hemat Mohammadi, der Leiter der Justizorganisation der Streitkräfte der Provinz Hamedan, dass eine Untersuchung durchgeführt werde, behauptete jedoch, dass die Sicherheitskräfte auf ein Fahrzeug geschossen hätten, dessen Fahrer zu fliehen versuchte. Aktivist*innen in den Sozialen Medien identifizierten die beiden getöteten Männer als Alireza Karbasi und Mehdi Abaei.
Laut Berichten in staatlichen Medien und offiziellen Erklärungen haben Sicherheitskräfte in Chomein in der Provinz Markazi am 17. Juli vier Angehörige einer Familie erschossen, die in zwei Autos unterwegs waren. Es handelte sich dabei um Mohammad Hossein Sheikhi, Mahboubeh Sheikhi, Farzaneh Heydari und ein dreijähriges Mädchen namens Raha Sheikhi. Vahid Baratizadeh, der Gouverneur von Chomein, erklärte, die Sicherheitskräfte hätten auf zwei „verdächtige” Autos geschossen. Am 12. August gab ein Regierungssprecher bekannt, dass mehrere an dem Schusswaffeneinsatz beteiligte Sicherheitskräfte festgenommen wurden, ohne jedoch weitere Details zu nennen.
Nach Aussagen von Behördenvertreter*innen gibt es keine Hinweise darauf, dass die bei diesen Vorfällen erschossenen Personen eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Sicherheitskräfte dargestellt hätten. Nach internationalem Recht ist die Anwendung potenziell tödlicher Gewalt zur Strafverfolgung eine extreme Maßnahme, die nur dann ergriffen werden darf, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht.