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Neuer Amnesty-Bericht: Kaum sichere Fluchtwege für Schutzsuchende, viele Länder schieben weiterhin nach Afghanistan ab

21. Oktober 2021

Zusammenfassung

  • Afghan*innen wird Grenzübertritt verwehrt, Ausreise gleicht einem Hürdenlauf
  • Neuer Amnesty-Bericht zeigt auf, dass viele Länder in Europa und Zentralasien rechtswidrige Push-Backs, Inhaftierungen und Abschiebungen anwenden
  • Amnesty fordert alle Länder auf, ihre internationale Verpflichtung einzuhalten, schutzsuchende Menschen einreisen zu lassen und das Non-Refoulement-Prinzip zu achten

Fast zwei Monate nach Ende der Evakuierungsflüge aus Afghanistan stehen die Menschen, die im Land zurückgelassen wurden, bei ihrer Suche nach Schutz im Ausland vor großen Hindernissen. Das zeigt Amnesty International in ihrem neuen Bericht Like An Obstacle Course: Few Routes To Safety For Afghans Trying To Flee Their Country. Nachbarstaaten verweigern Afghan*innen ohne Reisedokumente den Grenzübertritt, wodurch viele Menschen aus Afghanistan keine andere Möglichkeit haben, als die Grenze inoffiziell zu überqueren. Statt den Betroffenen wie völkerrechtlich vorgeschrieben Schutz zu gewähren, greifen zahlreiche Länder in Europa und Zentralasien auf rechtswidrige Push-Backs (Zurückweisungen), Inhaftierungen und Abschiebungen zurück.

Der Amnesty-Bericht macht deutlich, dass Pakistan, Usbekistan, Iran, Tadschikistan und Turkmenistan Menschen aus Afghanistan, die ohne gültige Reiseunterlagen unterwegs sind, nicht einreisen lassen, obwohl diese Menschen bei einer Rückführung nach Afghanistan möglicherweise schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären. Laut Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schoben die iranischen Behörden zwischen dem 27. August und 9. September 2021 insgesamt 58.279 Afghan*innen ohne Papiere ab. Usbekistan gab am 20. August an, 150 Personen nach Afghanistan zurückgeführt zu haben, basierend auf einer Vereinbarung mit den Taliban.

Unsicheres Schicksal für geflüchtete Afghan*innen

Amnesty International fordert alle Länder auf, ihrer Pflicht zum Schutz aller Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen nachzukommen, indem sie alle Rückführungen und Abschiebungen nach Afghanistan umgehend beenden und Zugang zu fairen Asylverfahren schaffen. Die Länder sollten zudem dringend Maßnahmen ergreifen, um Afghan*innen, die mit Repressalien seitens der Taliban rechnen müssen, Schutz zu gewähren, zum Beispiel durch die Minimierung der Anforderungen an die benötigten Einreisepapiere und die Ausstellung humanitärer Visa für besonders gefährdete Menschen.

„Die Ausreise aus Afghanistan gleicht derzeit einem Hürdenlauf. Seit der Machtübernahme der Taliban ist es beinahe unmöglich, Reiseunterlagen zu beantragen, was viele Afghan*innen dazu zwingt, ohne offizielle Dokumente zu reisen, was wiederum durch andere Regierungen bestraft wird. Menschen, die vor den Taliban aus Afghanistan fliehen, finden woanders keineswegs Sicherheit und Schutz, sondern landen stattdessen in behelfsmäßigen Lagern in Grenzregionen oder werden inhaftiert, bis sie in ein unsicheres Schicksal abgeschoben werden“, so Francesca Pizzutelli, Leiterin der Abteilung für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen bei Amnesty International.

Wir appellieren an alle Länder, schutzsuchende Afghan*innen aufzunehmen und gezielte Neuansiedlungsprogramme aufzulegen, um gefährdete Personen in Sicherheit zu bringen. Regierungen müssen frisch eingereisten und sich bereits im Land befindlichen Afghan*innen entsprechend des internationalen Non-Refoulement-Prinzips internationalen Schutz gewähren.

Francesca Pizzutelli, Leiterin der Abteilung für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen bei Amnesty International

Rückführungen aus Bulgarien, Kroatien und Griechenland

Die internationale Verpflichtung, schutzsuchende Menschen einreisen zu lassen, und die Pflicht zur Einhaltung des Non-Refoulement-Prinzips gelten nicht nur für Afghanistans Nachbarländer, sondern auch für Länder, die auf dem Luft- oder Seeweg bzw. mittels der Durchreise durch andere Länder erreicht werden können. Anders gesagt: Es wird völkerrechtlich nicht unterschieden, ob Schutzsuchende mit oder ohne gültige Papiere einreisen.

Nichtsdestotrotz werden Afghan*innen unter anderem aus Ländern wie Bulgarien, Kroatien und Griechenland nach wie vor zurückgeschoben. Polen hat gar neue Regelungen eingeführt, nach denen Menschen, die ohne offizielle Erlaubnis eingereist sind, in Polen kein Asyl beantragen können.

Seit dem 19. August sitzen 32 Afghan*innen an der Grenze zwischen Polen und Belarus fest, nachdem sie aus Polen nach Belarus gebracht wurden, vermutlich im Rahmen eines Push-Back und ohne eine individuelle Beurteilung ihrer jeweiligen Umstände. Die polnischen und belarussischen Grenzbeamt*innen halten diese Menschen auf einer kleinen grenznahen Fläche fest, wo sie weder Zugang zu angemessenen Unterkünften und Gesundheitsleistungen haben noch über ausreichend Trinkwasser oder Nahrungsmittel verfügen.

Indessen verkündeten die türkischen Behörden im Juli 2021 angesichts erhöhter Einreisezahlen aus Afghanistan den weiteren Ausbau einer Mauer an der Grenze zum Iran. Gleichzeitig werden in der Türkei weiterhin Afghan*innen ohne gültige Papiere festgenommen und abgeschoben.

Afghan*innen mussten sich problematischen Sicherheitsüberprüfungen unterziehen – unter anderem in Deutschland

Amnesty International weist zudem auf die problematischen Folgen von Sicherheitsfreigabeverfahren hin, die schutzsuchende Afghan*innen in manchen Ländern durchlaufen müssen. So verlangt Deutschland beispielsweise, dass Afghan*innen sich einer behördlichen Sicherheitsüberprüfung unterziehen, bevor sie für eine Evakuierung in Frage kommen. Allerdings ist die deutsche Botschaft in Kabul derzeit geschlossen und es gibt somit keine deutsche diplomatische Vertretung in Afghanistan. Die US-amerikanische Regierung unter Präsident Biden hat die Absicht verkündet, bis Ende September 2022 insgesamt 95.000 evakuierte Menschen aus Afghanistan neu ansiedeln zu wollen. Allerdings bestehen nach wie vor Bedenken bezüglich der Behandlung evakuierter Afghan*innen auf Militärstützpunkten der USA sowie hinsichtlich der Inhaftierung und Überstellung an Drittstaaten von evakuierten Afghan*innen, die an den strengen Sicherheitschecks gescheitert sind.

Die Welt darf Afghanistan nicht im Stich lassen

Angesichts der sich stets verschlechternden Menschenrechtslage in Afghanistan müssen alle Länder unverzüglich Maßnahmen ergreifen um sicherzustellen, dass insbesondere Frauen, die sich aktivistisch betätigen, sowie Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Angehörige marginalisierter ethnischer oder religiöser Minderheiten aus Afghanistan ausreisen können. Alle Staaten müssen sowohl neuankommenden Menschen als auch Afghan*innen, die sich bereits auf ihrem Territorium befinden, internationalen Schutz gewähren und andere Länder in ihrer Region dabei unterstützen, ihrerseits die Rechte von dort einreisenden Afghan*innen zu garantieren.

„Das Leben Tausender Menschen, die sich in ihrem Land unermüdlich für die Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Freiheit eingesetzt haben, hängt nun an einem seidenen Faden“, warnt Francesca Pizzutelli. 

Die Welt darf Afghanistan in diesem kritischen Moment nicht im Stich lassen. Wir müssen international geschlossen handeln, um den Menschen aus Afghanistan Schutz zu bieten.

Francesca Pizzutelli, Leiterin der Abteilung für die Rechte von Geflüchtete und Migrant*innen bei Amnesty International