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© Amnesty International, Foto: Jan Petersmann

news © Amnesty International, Foto: Jan Petersmann

Neue EU-Migrationsvereinbarung ist „gefährlich und unverhältnismäßig“

6. Oktober 2023

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich kürzlich auf eine Position geeinigt, was die unerwartet hohe Anzahl von Migrant*innen an den europäischen Außengrenzen sowie Fälle sogenannter „Instrumentalisierung“ von Migrant*innen betrifft. Im Rahmen der Einigung wäre es den EU-Mitgliedstaaten gestattet, von den üblichen Asyl- und Aufnahmestandards der EU abzuweichen. Diese Ausnahmeregelung ist höchst gefährlich, denn sie droht die Grundrechte ankommender Menschen zu untergraben, kritisiert Amnesty International.

Die nun erzielte Einigung würde es den EU-Mitgliedstaaten ermöglichen, die Registrierung von Asylsuchenden zu verzögern, eine weitaus größere Zahl von Menschen einem zweitklassigen Asylverfahren an der Grenze zu unterwerfen und mehr Personen an den Grenzen zu inhaftieren. Amnesty International hat die erheblichen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die aus einer derartigen politischen Linie resultieren – so z. B. Fälle von willkürlicher Inhaftierung und Verweigerung des Zugangs zu Asyl in Polen, Lettland und Litauen seit 2021.

Sollte die vorgeschlagene Krisenverordnung angenommen werden, so würde sie die Anwendung von Notfallbestimmungen bei der Bewältigung von Asylfällen in Europa weiter normalisieren. Sie würde die Kohärenz des gemeinsamen europäischen Asylsystems schwächen und gleichzeitig nichts dazu beitragen, um weitere künftige „Krisensituationen“ zu verhindern.

„Menschen, die an den EU-Grenzen ankommen, müssen die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen, ein faires Verfahren zu erhalten und mit Würde empfangen zu werden. Diese Einigung birgt die Gefahr, dass Menschen an den europäischen Grenzen festsitzen, inhaftiert werden oder mittellos zurückbleiben, während rein gar nichts zur Verbesserung des Schutzes von Asylsuchenden in der EU getan wird. Asylsuchenden ihre Rechte zu verweigern ist nicht nur gefährlich, sondern auch eine unverhältnismäßige Reaktion auf Situationen, die die Länder im Rahmen der bestehenden Vorschriften durchaus bewältigen könnten,” sagt Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International, und sagt weiter:

„Die heute getroffene Vereinbarung ist überdies ein weiterer Schritt in den Verhandlungen über ein breiteres Reformpaket des EU-Asylsystems. Das Bedürfnis, eine rasche Einigung zu erzielen, darf keinesfalls dazu führen, dass die Menschenrechte bei diesem Prozess auf der Strecke bleiben. Wir erwarten von allen EU-Institutionen, dass sie bei den Verhandlungen in den kommenden Monaten ohne Abstriche darauf bestehen, dass diese Rechte garantiert werden.“

Amnesty International fordert alle EU-Institutionen auf, von weiteren EU-rechtlichen Ausnahmeregelungen abzusehen, die die Grundrechte untergraben. Das Konzept der „Instrumentalisierung“ von Migrant*innen, d. h. Maßnahmen von Drittländern oder nichtstaatlichen Akteuren zur Ermöglichung einer Einreise in die EU, muss entschieden zurückgewiesen werden und darf nicht zur Rechtfertigung weiterer Ausnahmeregelungen dienen.

Hintergrundinformation

Im Anschluss an Debatten auf der Sitzung des Rates für Justiz und Inneres in der vergangenen Woche haben sich Vertreter*innen der Mitgliedstaaten auf eine Verordnung über Krisen und höhere Gewalt geeinigt. Damit können die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament über diesen Vorschlag aufgenommen werden. Die Institutionen hoffen, bis Ende des Jahres bzw. bis Anfang 2024 eine Einigung über diesen Teil sowie andere Bereiche des Pakts für Migration und Asyl zu erzielen.

Im September 2020 legte die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt vor, und im Dezember 2021 den Verordnungsvorschlag zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl, der in die angestrebte Vereinbarung eingeflossen ist. Amnesty International hat wiederholt gemahnt, dass diese beiden Verordnungsvorschläge schwerwiegende Bedenken für die Menschenrechte und das Recht auf Asyl in Europa aufwerfen, und daher ihre Abweisung gefordert.