© Amnesty International/Giorgos Moutafis
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Griechenland: „Wie lange können wir das noch ertragen?“

1. März 2018

Nass & kalt: Die Situation in den Flüchtlingslagern ist unerträglich

In den vergangenen zwei Wochen hat ein Amnesty-Team die griechischen Inseln Chios und Lesbos bereist, um die Situation, in der Tausende Geflüchtete zurzeit leben, zu dokumentieren. Sie warten alle darauf zu erfahren, ob sie weiterreisen dürfen, um endlich Sicherheit zu finden.

Man darf nicht vergessen: Auch hier auf den griechischen Inseln herrscht Winter. Es war monatelang unglaublich kalt und nass. Eine unerträgliche Situation für die Betroffenen! (lies weiter unten den Bericht von Almas Karotana, Digital-Engagement-Spezialistin der britischen Amnesty-Sektion)

Was kannst du tun? Twittere an den griechischen Premierminister

Du willst mehr machen? Fordere den griechischen Premierminister Alexis Tsipras auf Twitter auf jetzt einzuschreiten, um die Menschen von den Inseln zu holen.

Geschichten aus den Flüchtlingslagern der griechischen Inseln

Zurzeit sind 15.000 Personen auf den griechischen Inseln gestrandet. Die meisten von ihnen sind aus ihrer vom Krieg zerrütteten Heimat geflohen. Laut einem Deal zwischen der EU und der Türkei von März 2016 wurden Tausende gezwungen, über Monate auf den Inseln zu bleiben, während die griechischen Behörden darauf hoffen, möglichst bald, viele dieser Menschen wieder in die Türkei zurückzuschicken. Der Deal basiert auf der Annahme, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat für syrische Flüchtlinge sei. Dies ist nicht der Fall.

Der EU-Türkei-Deal wurde von vielen als Erfolg gefeiert, da seither weniger Schutzsuchende in Griechenland angekommen sind. Doch in Wirklichkeit ist es nur eine weitere Strategie der EU, die eigene Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf andere Länder abzuwälzen. Es zwingt zudem tausende, besonders Schutzbedürftige in entsetzlichen Bedingungen zu verharren.

Sie hatten ein normales Leben wie jeder andere auch

Wir haben während unseres Besuchs mit dutzenden Menschen gesprochen – viele kamen allein, andere begleitet von ihren jungen Familien. Sie sind von überall her: aus dem Mittleren Osten, Nordafrika und von noch weiter weg -  aus Syrien, Afghanistan, Kuwait, Eritrea, Somalia und anderen Ländern.

Bevor sie in die Camps kamen, hatten sie ein normales Leben, wie jeder andere auch. Sie waren Ingenieure, Bäckerinnen, Ladenbesitzer, Bauarbeiter, Bauern, Anwälte, Studierende, Lehrerinnen und mehr. Doch angesichts extremer Gefahren waren sie gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und zu fliehen. Jetzt befinden sie sich in den Camps Vial und Moria in Griechenland.

Das Vial Camp auf Chios beherbergt etwa 2.000 Flüchtlinge. Manche leben in Unterkünften, die aussehen wie Schiffscontainer – wenn sie "Glück" haben. Diese Wohnstätten sind trocken und stabil und doch besonders nachts eiskalt. Andere müssen in eine Art Zelt unterkommen, in dem sich dutzende Zimmer befinden, die durch Decken abgetrennt sind. Mehrere Menschen leben hier. Die Zimmer sind stockdunkel, da sie mit einer zusätzlichen Decke von oben abgedeckt sind, die der Isolierung und Wahrung der Privatsphäre dienen soll.

Unzählige Flüchtlinge erzählen uns, wie kalt es nachts ist und dass sie vor Kälte nicht schlafen können. Auch die Geräusche des Windes, der gegen die Zeltwände peitscht, hält sie wach. Auf ihren Gesichtern ist die blanke Erschöpfung von Wochen oder Monaten des Schlafmangels zu erkennen.

Wir sprechen mit einem Eritreer namens Saare*, der beklagt, dass andere Nationalitäten bei der Verlegung aus dem Camp heraus bevorzugt würden. Er versteht nicht, warum das so sei. Leider sind Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen an der Tagesordnung, wenn viele Menschen unter derart schwierigen Bedingungen zusammenleben müssen.

Saare ist mit seiner Frau hier. Sie teilen sich einen Container mit einem Dutzend anderer Personen. Er sagt, sie würden gerne etwas Privatsphäre haben. Doch hier werden sie keine bekommen. Ihr Termin, um herauszufinden, wie es weitergeht, ist erst im März. Bis dahin müssen sie so ausharren.

So wenig Hoffnung

Wir sprechen mit einem 18-jährigen aus Kuwait namens Doumi, der seit vier Monaten in Vial ist. Er kam über die Türkei in einem Boot mit über 60 Menschen. Manche von ihnen starben während der Überquerung. Er kam allein. Er sagt, er könne zurzeit nicht mal mehr an seine eigene Zukunft denken – zurzeit könne er nur darüber nachdenken, wie er hier wieder wegkomme. Es ist erschütternd, einen so jungen Menschen mit so wenig Hoffnung für sich selbst zu sehen. Dabei sollte er doch alle Chancen der Welt haben.

Wir sprechen auch mit einem warmherzigen, syrischen Ehepaar, das uns zu einem Gespräch in ihr Zelt einlädt und Decken für uns ausbreitet, damit wir uns setzen können. Es ist unglaublich, dass Menschen sogar unter diesen Bedingungen gastfreundlich bleiben. Die Frau, Haya, hat möglicherweise Brustkrebs. Sie zeigen uns Röntgenaufnahmen, die sie in einem Umschlag aufbewahren, den sie aus Damaskus mitgebracht haben. Die Frau sagt, dass die Ärztinnen und Ärzte im Camp dies ernst nehmen würden. Doch sie fürchtet, es wird zu lange dauern, ihr zu helfen. Ihr Ehemann Joram sagt, er wolle nur für seine Frau sorgen und seine Kinder zur Schule schicken.

Auffallend, jedoch nicht überraschend ist, dass alle Eltern, mit denen wir gesprochen haben, sich wenig um ihre eigene Zukunft sorgen. Sie wollen vor allem ein besseres Leben für ihre Kinder, diese in Sicherheit und Geborgenheit wissen und ihnen eine Schulausbildung ermöglichen. Das ist nicht viel verlangt. Und doch muss jeder hier hart dafür kämpfen.

„Ich möchte zur Schule gehen, um neu anzufangen“

Wir trafen dann einen jungen, syrischen Mann namens Sayid, der Anfang zwanzig ist. Er ist seit drei Monaten hier, nachdem er gezwungen war, seine Frau und sein acht Monate altes Baby zurückzulassen. Sayid möchte sie hierherbringen. Er macht sich auch wegen seinen Eltern Sorgen, da er seit 20 Tagen nichts mehr von ihnen gehört hat, nachdem deren Dorf von einem Luftangriff zerstört wurde. Er sagt, er habe Geld, er brauche nur die Papiere, um die Insel zu verlassen. Er möchte Lehrer werden: „Ich möchte zur Schule gehen, um neu anzufangen“.

Wir fragen Sayid, ob wir ein Foto von ihm machen können, aber er sagt nein. Tatsächlich wollten viele der Menschen, mit denen wir geredet haben, sich nicht von uns fotografieren lassen. Sie haben Angst, möglicherweise Ärger mit den Camp-Wächterinnen und -Wächtern zu kriegen. Sie wollen natürlich weder zurückgeschickt werden, noch ihre Verlegung aufs Festland verzögern. Am sichersten ist es, anonym zu bleiben.

Die schlechtesten Chancen die Inseln, bald verlassen zu können, haben allein reisende Männer. Wenn sie nicht als "besonders schutzbedürftig" eingestuft werden (wie beispielsweise Schwangere oder Menschen mit schwerwiegenden Gesundheitsproblemen) müssen sie voraussichtlich ein Jahr im Camp ausharren.

In Moria (auf Lesbos) haben wir einen jungen Afghanen getroffen, namens Jaah. Er scherzt darüber, dass er in der Zeit hier so sehr gealtert sei, dass er jetzt graue Haare habe. Eine jähre Wende nimmt das Gespräch, als er uns erzählt, dass er früher stets ans Arbeiten, Studieren und Reisen gedacht habe. Jetzt denke er nicht mehr daran. „Verbringe hier eine Woche und du wirst verrückt“, sagt er.

Jaah ist Teil der afghanischen Gemeinschaft in Moria in einer Siedlung für überwältigende 7.000 Menschen – dreimal mehr, als das Fassungsvermögen des Camps. Der "Anführer" der Afghanen ist ein älterer Mann namens Abdul. Er nimmt den Jüngeren gegenüber eine beschützende Rolle ein und wird von ihnen wie eine Vaterfigur wahrgenommen. Abdul ist wütend, dass die Männer hier oft Monate oder Jahre warten, bis ihre Asylanträge abgewiesen und sie nach Hause geschickt werden. Er fragt sich, warum ihnen dies nicht früher mitgeteilt wird, statt ihre Zeit zu verschwenden. „Wir sind alle Menschen, wie lange sollen wir diese Situation noch ertragen?“ fragt er.

Ebenfalls in Moria treffen wir eine 30-jährige Frau aus Yemen, namens Adelina, die uns von einem Überfall erzählt, der kürzlich passiert ist. Sie lebt in einem ausschließlich für Frauen vorgesehenen Bereich des Camps. Eines Nachts seien Männer gekommen. Sie warfen mit Steinen und brachen durch Zäune und Fenster in den geschlossenen Bereich ein. Die Männer liefen mit vermummten Gesichtern durch das Camp. Sie brachen in die Container der Frauen ein, um sie zu bestehlen. Die Frauen blieben in ihren Containern und blockierten die Türen mit Betten.„Die Polizei setzte Tränengas ein und uns liefen die Tränen übers Gesicht, während wir noch im Zimmer waren. Wir wussten nicht, was geschah“. Die Polizei ging um 1:00 Uhr nachts, während die Situation noch im vollen Gange war und kam bis 6:00 Uhr morgens nicht wieder.

Zu viele Geschichten zu erzählen...

Wir lesen in der Zeitung viel über die Zahl von geflüchteten Menschen. Es ist aber wichtig nicht zu vergessen, dass sich hinter den Zahlen viele furchtbare und auch einzigartige Geschichten verbergen. Zu viele, um sie alle zu erzählen.

Wie die Geschichte der Eltern, denen im ersten Monat ihres Aufenthaltes hier Windeln und Milch für ihr Baby gegeben wurde und seither nicht mehr;

über Mahlzeiten, die einen kaum sattmachen;

über die pure Langeweile des Wartens darauf, dass man entweder verlegt oder nach Hause geschickt wird;

darüber, dass man nachts vor Angst nicht auf Toilette gehen kann, weil man nicht weiß, wem man dort begegnen wird;

über den Versuch, um 4:00 Uhr morgens einen Arzt zu sehen und schier endlos zu warten, nur um einige Stunden später mit einer Handvoll wirkungsloser Pillen wieder weggeschickt zu werden.

Oder die Geschichte der Hunderten von Kindern, die gezwungen sind, ihre Kindheit nicht in der Schule, sondern im Schlamm zu verbringen;

von Depressionen und Angstzuständen, die sich im Camp wie ein Lauffeuer verbreiten.

Diese Geschichten von Eltern, Geschwistern und Kindern, die in den Heimatländern zurückgelassen wurden. Und doch wird gehofft, sie eines Tages in ein neues Leben nachzuholen.

Oder von hochschwangeren Frauen, die gezwungen sind auf dem Boden zu schlafen, weil es keinen anderen Ort gibt, wo sie hingehen könnten.

Und die Geschichten von Tausenden mehr, mit denen wir nicht sprechen konnten.

Eine Reise, die Spuren hinterlässt

Ein Bericht von Almas Karotana, Digital-Engagement-Spezialistin der britischen Amnesty-Sektion

Wenn man nur als Besucher in die Camps kommt, ist es schwer sich vorzustellen, dass Menschen auch nur eine einzige Nacht unter diesen Bedingungen leben müssen, alleingelassen für Wochen, Monate und sogar Jahre.

Menschen werden hier gefangen gehalten. Sie warten auf ihr Schicksal – möglicherweise das fürchterliche Schicksal, in ihre Heimatländer zurückkehren zu müssen und somit zu den Gefahren, vor denen sie geflohen sind.

Wenn sie Glück haben, werden sie sich irgendwo, an einem sicheren Ort ein neues Leben aufbauen, aber in jedem Fall werden sie über ihr Schicksal erstmal im Unwissenden bleiben.

Das ist ungerecht – sie brauchen Hoffnung auf ein besseres Leben und haben sie verdient.