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© Amnesty International/Vincent Tremeau

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Boko Haram: Neue Eskalation der Gewalt

5. September 2017

Die bewaffnete Gruppe zwingt Frauen und Mädchen, sich an belebten Orten in die Luft zu sprengen

Eine neue Welle der Gewalt durch Anschläge und Selbstmordattentate der bewaffneten Gruppe Boko Haram forderte hunderte Tote in Kamerun und Nigeria: Seit Anfang April 2017 wurden mindestens 381 Zivilist*innen getötet – mehr als doppelt so viele wie in den fünf Monaten zuvor.

Amnesty-Recherchen belegen, dass der Anstieg der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung in der Region Extrême-Nord in Kamerun und in den nigerianischen Bundesstaaten Borno und Adamawa vor allem auf den verstärkten Einsatz von Selbstmordattentaten durch Boko Haram zurückzuführen ist. Häufig werden Frauen und Mädchen gezwungen, sich an belebten Orten in die Luft zu sprengen.

Diese Welle schockierender Gewalt durch Boko Haram, die durch die Zunahme an Selbstanschlägen noch weiter verschärft wird, macht eines deutlich: Millionen Menschen in der Region um den Tschad-See brauchen dringend Hilfe und Schutz. Die Regierungen in Nigeria, Kamerun und anderen Staaten müssen umgehend aktiv werden, um die Zivilbevölkerung vor dieser Welle der Gewalt zu schützen.

Alioune Tine, Direktor der Abteilung West- und Zentralafrika bei Amnesty International

Angriff aus dem Hinterhalt

Seit April sind durch Boko-Haram-Anschläge in Nigeria mindestens 223 Menschen getötet worden. Die tatsächliche Zahl könnte jedoch noch weit höher liegen, da einige Anschläge vermutlich nicht gemeldet wurden. Zwischen Mai und August sind sieben Mal mehr Zivilist*innen getötet worden als in den vier Monaten zuvor. Allein im August gab es 100 Tote.

Der Anschlag mit den meisten Todesopfern in jüngster Zeit wurde am 25. Juli verübt: Aus dem Hinterhalt griff Boko Haram im Gebiet Magumeri im nigerianischen Bundesstaat Borno das Team eines Erdölunternehmens an; 40 Menschen wurden erschossen, drei weitere entführt.

Vor allem Mädchen und Frauen betroffen

Mit Selbstmordanschlägen hat Boko Haram seit April in Nigeria mindestens 81 Menschen getötet. Zudem hat die Gruppe seit Anfang des Jahres 67 Personen – vor allem Frauen und Mädchen – verschleppt.
Es liegen Berichte über Angriffe auf Dörfer im August vor, bei denen Boko-Haram-Kämpfer die Bewohner zusammentrieben und auf sie schossen, Häuser niederbrannten und Wohnungen, Geschäfte und Märkte plünderten.

In Kamerun hat die bewaffnete Gruppe seit April mindestens 158 Menschen getötet – vier Mal mehr als in den fünf Vormonaten. Dieser jüngste Anstieg ist vor allem auf die Zunahme an Selbstmordanschlägen zurückzuführen – inzwischen sind es insgesamt 30 gewesen, pro Woche hat es seit Anfang April mindestens einen Anschlag gegeben.

Hotspots: die Städte Waza und Kolofata

Der Anschlag mit der höchsten Opferzahl ereignete sich am 12. Juli in Waza: Dort wurden 16 Menschen getötet und 34 verletzt, als ein Mädchen gezwungen wurde, sich in einem belebten Videospiele-Zentrum in die Luft zu sprengen.

Die Stadt Kolofata im Bezirk Mayo-Sava wurde von Boko Haram besonders ins Visier genommen. Dort sind seit April neun Anschläge verübt worden. Mora, die zweitgrößte Stadt in der Region Extrême-Nord, wurde bislang drei Mal zum Ziel von Anschlägen.

Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen

In der gesamten Region um den Tschad-See sind aufgrund der Gewalt durch Boko Haram Millionen Menschen auf humanitäre Unterstützung angewiesen.

In der Region sind insgesamt 2,3 Millionen Menschen vertrieben worden, darunter 1,6 Millionen Binnenvertriebene und Geflüchtete in Nigeria und 303.000 in Kamerun. Weitere 374.000 Menschen wurden im Tschad und im Niger vertrieben.

Über sieben Millionen Menschen in der Region sind von extremer Nahrungsmittelknappheit betroffen, darunter fünf Millionen Menschen in Nigeria und 1,5 Millionen in Kamerun. 515.000 Kinder leiden unter akuter Mangelernährung, über 85 Prozent von ihnen in Nigeria.

Die Lage in der Region ist so unsicher geworden, dass in einigen unzugänglichen Gebieten im Nordosten Nigerias humanitäre Hilfsoperationen schwierig oder sogar unmöglich geworden sind. Die Infrastruktur ist in den betroffenen Teilen Nigerias, Kameruns, Tschads und Nigers zusammengebrochen. Schulen und Gesundheitszentren wurden geschlossen. Gleichzeitig stehen die Länder vor enormen Herausforderungen bei der Flüchtlingsversorgung.

Hintergrund

Boko Haram ist seit dem Jahr 2003 als bewaffnete Gruppierung in Nigeria aktiv. Seit 2014 begeht die bewaffnete Gruppe auch immer wieder Menschenrechtsverletzungen in Kamerun, Niger und Tschad. Mit Zurückdrängen der Gruppierung aus Nordnigeria im Jahr 2015 haben Anschläge in den Nachbarländern Nigerias durch Boko Haram deutlich zugenommen.

Einer der Gründe für die neue Welle der Gewalt könnte die Vertreibung von Boko-Haram-Mitgliedern aus dem Sambisa-Wald in Nigeria in die Mandara-Berge in Kamerun Ende 2016 sein, die auf Operationen des nigerianischen Militärs zurückzuführen ist.

Nach Schätzungen wurden in dem Konflikt mit Boko Haram bislang 20.000 Menschen getötet. Die Gruppierung hat außerdem Hunderte von Zivilist*innen entführt, Städte und Dörfer angegriffen und verbrannt, Häuser und Eigentum geplündert und zerstört. Trotz militärischen Drucks sowohl seitens der kamerunischen als auch der regionalen Sicherheitskräfte (einschließlich der "Multi National Joint Task Force") setzt Boko Haram seine Angriffe gegen Zivilpersonen fort.

Gleichzeitig begehen auch die Sicherheitskräfte aus Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger immer wieder Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen Boko Haram, indem sie Menschen willkürlich verhaften, foltern und auch töten. Amnesty hat im Juli den Bericht "Cameroon’s Secret Torture Chambers" veröffentlich, der 101 Fälle von Folter durch kamerunische Sicherheitskräfte im Kampf gegen Boko Haram dokumentiert.