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Amnesty-Recherche zu Afghanistan: Frauenhäuser geschlossen, Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt nirgendwo sicher

6. Dezember 2021

Frauenhäuser und wichtige Hilfsangebote für Frauen und Mädchen, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben, sind in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban drastisch reduziert worden. Frauen und Mädchen, die dringend Unterstützung und einen sichere Unterkunft benötigen, wurden praktisch sich selbst überlassen. Das zeigt eine neue Recherche von Amnesty International.

In 26 Interviews berichteten Überlebende und Frauenschutz-Einrichtungen Amnesty International, dass die Taliban Schutzräume geschlossen und Gefangene aus dem Gefängnis entlassen haben, darunter viele, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt wurden.

Viele Überlebende, aber auch Mitarbeiter*innen von Frauenhäusern, Anwälti*nnen, Richter*innen, Regierungsbedienstete und andere Personen, die im Bereich der Schutzdienste tätig sind, sind nun der ständigen Gefahr von Gewalt und Tod ausgesetzt.

"Frauen und Mädchen, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben, sind in Afghanistan praktisch sich selbst überlassen worden. Ihr Unterstützungsnetz wurde zerschlagen, und ihre Zufluchtsorte sind so gut wie verschwunden", sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, und sagt weiter:

"Um Frauen und Mädchen vor weiterer Gewalt zu schützen, müssen die Taliban die Wiedereröffnung von Frauenhäusern und die Wiederherstellung der Unterstützungsleistungen für Überlebende ermöglichen und unterstützen, das Ministerium für Frauenangelegenheiten wieder einrichten und sicherstellen, dass die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen frei und ohne Angst vor Repressalien arbeiten können."

Es ist unbegreiflich, dass die Taliban im ganzen Land Gefängnistüren geöffnet haben, ohne an die Risiken zu denken, die verurteilte Täter für die Frauen und Mädchen darstellen, die ihre Opfer waren, und für diejenigen, die sich für die Überlebenden einsetzen.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

Internationale Gemeinschaft muss dringend handeln

Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft auf, sofortige und langfristige Mittel für Frauenschutz-Einrichtungen bereitzustellen, und Überlebende und Mitarbeiter*innen, die sich in unmittelbarer Gefahr befinden, zu evakuieren. Die internationale Gemeinschaft muss die Taliban auffordern, ihre Verpflichtungen gegenüber Frauen und Mädchen einzuhalten, insbesondere gegenüber denjenigen, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben oder von ihr bedroht sind.

Am 26. und 29. November erklärte der Taliban-Sprecher Suhail Shaheen gegenüber Amnesty International per Telefon: "Nach den Regeln des Islam gibt es keinen Platz für Gewalt gegen Frauen und Mädchen... Frauen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind, können sich an die Gerichte wenden, und die Gerichte werden ihre Fälle anhören... und sich um ihre Beschwerden kümmern."

Amnesty International befragte Überlebende und Personen, die im Bereich Schutzdienste tätig sind, in den Provinzen Badghis, Bamiyan, Daikundi, Herat, Kabul, Kunduz, Nangarhar, Paktika, Sar-e Pul und Takhar.

9 von 10 Frauen in Afghanistan erleben Gewalt in der Partnerschaft

Vor der Machtübernahme durch die Taliban hatten viele überlebende Frauen und Mädchen Zugang zu einem landesweiten Netz von Frauenhäusern und weiteren Einrichtungen, einschließlich kostenloser Rechtsberatung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung.

Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt wurden von den Provinz- und Hauptstadtbüros des Frauenministeriums und der Menschenrechtskommission sowie von Frauenhäusern, Krankenhäusern und Polizeistationen im ganzen Land in dieses System geleitet.

Das System war bei weitem nicht perfekt, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen in Afghanistan, wo nach Angaben der UNAMA neun von zehn Frauen im Laufe ihres Lebens mindestens eine Form von Gewalt in der Partnerschaft erleben.

Den Einrichtungen zufolge handelte es sich bei den häufigsten Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt um Gewalt in Form von Schlägen, Vergewaltigung, anderen Formen körperlicher und sexueller Gewalt und Zwangsheirat. Die Überlebenden brauchten oft dringend medizinische Behandlung.

Ein in Nangargar ansässige Mitarbeiterin einer Einrichung sagte: "[Die Fälle] waren sehr extrem. Wir hatten einen Fall, in dem ein Mann die Nägel von den Fingern seiner Frau entfernte... [Ein] Mann nahm ein Brecheisen und schälte die Haut seiner Frau ab... Es gab eine Frau, die von ihrer Familie schwer misshandelt wurde. Sie konnte nicht einmal mehr die Toilette benutzen."

Als die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernahmen, brach das System der Schutzdienste zusammen. Notunterkünfte wurden geschlossen, und viele wurden von Angehörigen der Taliban geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen schikanierten oder bedrohten Taliban-Mitglieder das Personal.

Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken, und andere Überlebende wurden von ihren Familienmitgliedern gewaltsam weggebracht. Andere Überlebende waren gezwungen, bei den Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen unhaltbaren Situationen zu leben.

Zeenat* wurde regelmäßig von ihrem Ehemann und ihrem Bruder geschlagen, bevor sie in einer Unterkunft Zuflucht suchte. Als die Taliban kamen, flohen sie und mehrere andere Frauen. Jetzt halten sie sich in einem Versteck auf. Sie sagte Amnesty: "Wir sind nur mit den Kleidern gekommen, die wir anhatten. Wir haben keine Heizung und gehen hungrig schlafen... Mein Bruder ist mein Feind, und mein Mann ist mein Feind. Wenn er mich und meine Kinder sieht, wird er uns töten... Ich bin sicher, dass sie nach mir suchen, weil sie wissen, dass die Unterkunft geschlossen ist."

Eine Leiterin eines Frauenhauses, die sich derzeit gemeinsam mit einigen Überlebenden aus ihrem Frauenhaus versteckt hält, erklärte gegenüber Amnesty International: "Wir haben keinen richtigen Wohnraum. Wir können nicht rausgehen. Wir haben solche Angst... Bitte holt uns hier raus. Wenn nicht, dann könnt ihr darauf warten, dass wir getötet werden."

Wir haben solche Angst... Bitte holt uns hier raus. Wenn nicht, dann könnt ihr darauf warten, dass wir getötet werden.

Leiterin eines geschlossenen Frauenhauses, die sich nun versteckt hält

Straftäter, die für Gewalt an Frauen verurteilt wurden, freigelassen

Bei ihrem Vormarsch entließen die Taliban systematisch Gefangene aus den Gefängnissen, von denen viele wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt worden waren. Aussagen von Zeug*innen und anderen Personen mit Informationen aus erster Hand sowie glaubwürdige Medienberichte deuten darauf hin, dass Mitglieder der Taliban dafür verantwortlich waren. Ein Sprecher der Taliban dementierte dies gegenüber Amnesty International und betonte, dass die vorherige Regierung die Gefängnisse geöffnet habe. 

Eine Juristin, die sich auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisiert hat, sagte, sie sei an der Verurteilung von mehr als 3.000 Tätern geschlechtsspezifischer Gewalt in dem Jahr vor der Machtübernahme der Taliban beteiligt gewesen. Sie sagte: "Überall, wo [die Taliban] hinkamen, haben sie die Gefangenen freigelassen... Können Sie sich das vorstellen? Mehr als 3.000 freigelassene Gefangene in allen Provinzen Afghanistans in einem einzigen Monat".

Amnesty International hat auch glaubwürdige Berichte erhalten, wonach Überlebende von den Taliban in das Gefängnissystem überführt wurden, unter anderem in das Gefängnis Pul-e-Charkhi in der Nähe von Kabul.

Beschützer*innen sind jetzt selbst schutzbedürftig

Viele, die bei Frauenschutz-Einrichtungen arbeiten, sagten, dass sie zwar vor der Machtübernahme durch die Taliban bereits erheblichen Risiken ausgesetzt waren, ihr Leben nun aber in unmittelbarer Gefahr ist und sie dringend Schutz brauchen.

Eine in Nangargar ansässige Mitarbeiterin einer Einrichung erklärte: "Alle diese Frauen, die an diesem System gearbeitet haben, brauchen jetzt einen sicheren Ort... Wir leben jeden Tag in Angst und Schrecken."

Eine in Nangarhar ansässige Mitarbeiterin sagte: "Ich erhalte täglich Drohungen von den Taliban, ISIS, den Tätern und den Familienmitgliedern...".

Eine andere Mitarbeiterin aus Bamiyan sagte: "Ich erhielt jeden Tag drei Anrufe von Männern, die aus dem Gefängnis geflohen waren. Nachdem ich auch einen Anruf von den Taliban erhalten hatte, wechselte ich zu einer neuen Telefonnummer."

Diese Frauen waren am Boden zerstört, als sie sahen, wie das System, das sie mühsam aufgebaut hatten, zusammenbrach. Eine ehemalige Richterin erzählte Amnesty International: "20 Jahre lang habe ich alles von Grund auf aufgebaut – ich habe mich angestrengt, bin von einem Büro zum nächsten gerannt. Ich habe versucht, alle zu überzeugen, damit wir einen Schutzmechanismus für Frauen haben... Es braucht viel Mut, viele Opfer und Energie, um etwas aus dem Nichts aufzubauen – und dann wird das Aufgebaute wieder zu Nichts."

"Wir sind nirgendwo mehr sicher"

Frauen und Mädchen, die seit der Machtübernahme durch die Taliban von Gewalt betroffen sind, können sich nirgendwo hinwenden. Eine Psychologin, die in Kabul mit Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt gearbeitet hat, sagte Amnesty International: "Die Taliban haben kein Verfahren, wie sie mit diesen Fällen umgehen."

Ein Mitglieder der Staatsanwaltschaft, das für Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt zuständig war, erklärte: "In der Vergangenheit konnten sich Frauen an das Ministerium für Frauenangelegenheiten wenden. Sie konnten allein hingehen und ihren Fall melden. Aber jetzt, wo Frauen ohne einen Mahram [männlicher Vormund] nirgendwo hingehen dürfen, wird es wirklich kompliziert."

Fariha* wurde regelmäßig von ihrem Mann und seinen Verwandten geschlagen. Sie sagte: "[Mein Mann] nahm alles, was er finden konnte, und schlug mich damit... Immer, wenn er mich schlug, kam seine Familie zusammen und sah zu... Das geschah fast jeden Tag... Das erste Mal schlug er mich mit einem Draht... Ich hatte blaue Flecken am ganzen Körper. Meine Hände und meine Nägel waren zerkratzt, alle. Danach schlug er mich nur noch von der Taille abwärts. Er sagte zu mir: 'Ich werde dich an diesen Stellen [deine Genitalien und dein Gesäß] schlagen, die man nicht sehen kann'." 

Fariha war im neunten Monat schwanger, als sie mit Amnesty International sprach, und suchte verzweifelt nach einem sicheren Ort zum Leben. Sie fügte hinzu: "Früher gab es ein Frauenhaus, und ich ging dort hin. Ich bat darum, dass man mich dort aufnimmt. Sie sagten, dass es nicht in Betrieb ist und sie keine neuen Fälle aufnehmen können... Es gibt keine Optionen für mich."

Adilia* wurde im Alter von sieben Jahren gezwungen, einen 80-jährigen Mann zu heiraten. Sie sagte: "Ich lebte ein Jahr lang mit ihm zusammen, und er schlug mich jeden Tag und sagte: 'Warum wirst du nicht schwanger?'"

Adilia floh, wurde aber wieder verheiratet und war regelmäßig Schlägen und anderen Formen von Gewalt und Missbrauch durch ihren zweiten Ehemann und dessen Verwandte ausgesetzt. Als sie mit Amnesty International sprach, war sie gerade in eine der wenigen Frauenhäuser gebracht worden, die es in Afghanistan noch gibt.

Sie sagte: "Wir haben jetzt große Angst... Wie lange werden wir bleiben? Die Taliban kamen um 12 Uhr nachts, um 1 Uhr nachts und viele Male am Tag in die Unterkunft. Wir haben [ihnen] gesagt, dass dies ein sicherer Ort für uns ist, aber sie wollten uns nicht glauben... Wir sind nirgendwo mehr sicher."

Methodik der Amnesty-Rercherche

Vom 26. Oktober bis zum 24. November 2021 führte Amnesty International Telefoninterviews mit sechs Überlebenden und 20 Personen, die im Schutzsystem tätig sind, darunter Frauenhaus-Leiter*innen und -mitarbeiter*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen, Psycholog*innen,  Ärzt*innen und Vertreter*innen des Ministeriums für Frauenangelegenheiten.

Amnesty International befragte auch 18 lokale Aktivist*innen, Journalist*innen, Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und der Vereinten Nationen sowie andere Expert*innen für geschlechtsspezifische Gewalt in Afghanistan.

* Namen wurden geändert, um die Identität der Menschen zu schützen.

Früher gab es ein Frauenhaus, und ich ging dort hin. Ich bat darum, dass man mich dort aufnimmt. Sie sagten, dass es nicht in Betrieb ist und sie keine neuen Fälle aufnehmen können... Es gibt keine Optionen für mich.

Fariha, Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt