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© Illustration By Colin Foo / Amnesty International

news © Illustration By Colin Foo / Amnesty International

Amnesty-Bericht zu Syrien: 56.000 Menschen inhaftiert, darunter 30.000 Kinder

17. April 2024

Zusammenfassung

  • Schätzungen zufolge sind aktuell 56.000 Menschen inhaftiert, die meisten von ihnen willkürlich und auf unbegrenzte Zeit
  • Unter den Inhaftierten sind 30.000 Kinder sowie jesidische Überlebende der Gräueltaten und Menschenhandel durch den IS
  • Inhaftierte unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und Folter ausgesetzt
  • Zu den Foltermethoden gehören Schläge, das erzwungene Verharren in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks
  • US-Regierung spielte eine wesentliche Rolle bei der Schaffung und Erhaltung dieses Systems 

Zahlreiche Menschen, die nach der Niederlage der bewaffneten Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) im Nordosten Syriens inhaftiert wurden, sind systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Viele von ihnen sterben unter grausamen Bedingungen. Das zeigt Amnesty International in einem neuen Bericht auf, der heute veröffentlicht wird.

Der englischsprachige Bericht Aftermath: Injustice, Torture and Death in Detention in North-East Syria dokumentiert, dass die Autonomiebehörden für die Verletzung der Rechte von mehr als 56.000 Menschen in ihrem Gewahrsam verantwortlich sind. Dabei handelt es sich Schätzungen zufolge um 11.500 Männer, 14.500 Frauen und 30.000 Kinder, die in mindestens 27 Hafteinrichtungen und in den beiden Internierungslagern Al-Hol und Roj festgehalten werden. Die Autonomiebehörden sind der wichtigste Partner der US-Regierung und anderer Mitglieder der Koalition, die den Islamischen Staat im Nordosten Syriens besiegt hat. Die USA sind in die meisten Bereiche des Strafvollzugsystems involviert.

Auch mehr als fünf Jahre nach der territorialen Niederlage des Islamischen Staats sind noch immer Zehntausende willkürlich und auf unbegrenzte Zeit inhaftiert. Viele von ihnen werden unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und sind Folter in Form von schweren Schlägen, dem erzwungenen Verharren in schmerzhaften Positionen, Elektroschocks und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Tausende weitere sind „verschwunden“. Frauen wurden rechtswidrig von ihren Kindern getrennt.

Unser Bericht zeigt, dass sich die Autonomiebehörden Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Die in den Internierungslagern und Hafteinrichtungen festgehaltenen Kinder, Frauen und Männer leiden unter entsetzlicher Grausamkeit und Gewalt. Bei der Schaffung und Erhaltung dieses Systems hat die US-Regierung eine wesentliche Rolle gespielt.

Shoura Zehetner-Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich

„Es ist ein System aus weitgehend rechtswidrigen Haftzentren, das von systematischen unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen, rechtswidrigen Tötungen und der weit verbreiteten Anwendung von Folter geprägt ist. Die USA müssen nun ihren Teil dazu beitragen müssen, dieses System wieder zu ändern. Zwar haben die USA Unterstützung geleistet, um die Haftbedingungen zu verbessern oder Menschenrechtsverstöße zu mildern, doch sind diese Interventionen weit hinter dem zurückgeblieben, was nach dem Völkerrecht erforderlich ist,“ sagt Shoura Zehetner-Hashmi, und sagt weiter:

„Dieses Strafvollzugsystem verstößt gegen die Rechte der Menschen, denen Verbindungen zum Islamischen Staat vorgeworfen werden, und hat auch den Opfern und Überlebenden von IS-Verbrechen keine Gerechtigkeit und Rechenschaft gebracht.“ Und weiter: „Vor dem Hintergrund der weltweit anhaltenden Bedrohung durch den IS führen die fortlaufenden Menschenrechtsverletzungen im Nordosten Syriens nur zu weiteren Missständen und dazu, dass eine Generation von Kindern nichts als systematische Ungerechtigkeit kennenlernt. Die Autonomiebehörden, die Mitglieder der von den USA angeführten Koalition und die Vereinten Nationen müssen handeln, um gegen diese Verstöße vorzugehen und dem Kreislauf aus Missbrauch und Gewalt ein Ende zu setzen.“

Amnesty International fordert unter anderem juristische Lösungen, um die Schuldigen für die vom Islamischen Staat begangenen Gräueltaten zur Verantwortung zu ziehen und einen Überprüfungsprozess, um zu bestimmen, welche der inhaftierten Personen sofort freizulassen sind. Besonderes Augenmerk sollte dabei den Opfern von IS-Verbrechen und gefährdeten Gruppen gelten.

„Jedenfalls muss dafür gesorgt werden, dass die Menschenrechtsverstöße sofort gestoppt und Berichte über Folter und Todesfälle unabhängig untersucht werden“, so Shoura Hashemi.

Die Rolle der von den USA angeführten Koalition

Zu den Inhaftierten gehören Syrer*innen, Iraker*innen und ausländische Staatsangehörige aus schätzungsweise 74 anderen Ländern. Der Mehrheit der inhaftierten Personen gelangte Anfang 2019, während der letzten Kämpfe mit dem IS, in den Gewahrsam der Autonomiebehörden. Diese Menschen werden jetzt in zwei verschiedenen Einrichtungen gefangen gehalten – in geschlossenen, hier als „Hafteinrichtungen“ bezeichneten Gebäuden, sowie in geschlossenen Lagern, sogenannten „Internierungslagern“.

Betrieben werden die Hafteinrichtungen von den Autonomiebehörden der Region Nord- und Ostsyrien, bestehend aus den Demokratischen Kräften Syriens (SDF), anderen, mit den SDF verbundenen Sicherheitskräften und dem zivilen Flügel der SDF, der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES).

2014 gründete das US-Verteidigungsministerium eine von den USA angeführte Koalition, um den IS „zu schwächen und zu vernichten“. Zwar besteht diese Koalition grundsätzlich aus 29 Mitgliedstaaten, doch hat die US-Regierung bei weitem den größten Einfluss hinsichtlich der Strategie, Planung, Ressourcenbeschaffung sowie der Umsetzung ihrer Mission. Die von den USA angeführte Koalition hat mit finanzieller Unterstützung des US-Kongresses bestehende Hafteinrichtungen renoviert und neue gebaut und ist auch häufig vor Ort. Das US-Verteidigungsministerium hat die SDF und die mit ihnen verbundenen Sicherheitskräfte mit Hunderten von Millionen US-Dollar unterstützt. Die von den USA angeführte Koalition spielt auch eine wesentliche Rolle bei den laufenden gemeinsamen Operationen, in deren Folge Personen in den Gewahrsam der SDF überführt werden und Personen, die im Nordosten Syriens festgehalten werden, einfacher in Drittländer wie den Irak zurückgeführt werden können. 

Folter und Todesfälle in Sicherheitseinrichtungen

Die von den SDF geführte Hafteinrichtung Sini befindet sich am Rand der Stadt Al-Shaddadi im Gouvernement Hasakah. Amnesty International hat acht Männer befragt, die zwischen 2019 und 2023 in Sini inhaftiert waren. Nach ihren Aussagen wurden Häftlinge regelmäßig gefoltert oder anderweitig misshandelt, unter anderem durch Schläge, das Auspeitschen mit Stromkabeln, das Aufhängen an den Handgelenken in schmerzhaften Positionen, durch sexualisierte Gewalt und durch Elektroschocks.

Die zweite wichtige Einrichtung der SDF, in der Männer und Jungen inhaftiert sind, ist Panorama in der Stadt Hasakah. Die Einrichtung wurde im Rahmen eines Projekts der von den USA geführten Koalition speziell zu diesem Zweck gebaut. Häftlingen in Panorama wurde der Zugang zu angemessener Nahrung und medizinischer Versorgung verweigert, was zu Krankheiten und Seuchen führte. So kam es zu einem schweren Ausbruch von Tuberkulose, der seit Jahren andauert. Eine unbehandelte Tuberkulose führt in 50 Prozent der Fälle zum Tode.

Amnesty International stellt fest, dass in Hafteinrichtungen der SDF und damit verbundener Sicherheitskräfte systematisch Folter zum Einsatz kommt. Die Organisation befragte 46 Männer, Frauen und Kinder, die in anderen Hafteinrichtungen der Sicherheitskräfte als Sini und Panorama inhaftiert waren und ebenfalls Folter oder andere Misshandlungen erlebt hatten. Die meisten von ihnen waren syrische Staatsangehörige und wurden gefoltert, um ein „Geständnis“ zu erzwingen. Amnesty International hat zwei Personen befragt, die unmittelbar nach ihrer Übergabe aus dem Gewahrsam der von den USA angeführten Koalition an die SDF und damit verbundene Sicherheitskräfte gefoltert wurden.

Minderjährige in Hafteinrichtungen

Schätzungen zufolge befinden sich 1.000 syrische und ausländische Jungen und als Minderjährige inhaftierte junge Männer in den Hafteinrichtungen, zu denen auch „Rehabilitationszentren“ für Jugendliche gehören. Sie sind den gleichen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wie die Erwachsenen, in manchen Fällen auch Folter und anderen Misshandlungen. Nach Schätzungen wird nur jeder Zehnte von ihnen beschuldigt, ein Verbrechen begangen zu haben.

Die Zahl der Jungen in den Hafteinrichtungen nimmt zu. Nach wie vor werden syrische Jungen wegen ihrer mutmaßlichen Verbindungen zum IS festgenommen, manchmal auch mit Unterstützung der von den USA angeführten Koalition.

Darüber hinaus werden Jungen mit ausländischer Staatsangehörigkeit von den Autonomiebehörden in den Internierungslagern auch gewaltsam von ihren Müttern oder Erziehungsberechtigten getrennt und in Hafteinrichtungen verlegt. Die Verlegungen scheinen nicht auf der Grundlage individueller Beurteilungen im besten Interesse der Jungen zu erfolgen, sondern vielmehr als Vorsichtsmaßnahme der Autonomiebehörden angesichts einer wachsenden und älter werdenden Zahl Jugendlicher in den Lagern, die ihrer Ansicht nach in Zukunft eine Gefahr darstellen könnten.

Gewalt in Internierungslagern und Verlegung von Frauen in Hafteinrichtungen

Im Dezember 2023 hielten die Autonomiebehörden mehr als 46.600 Menschen, in der Mehrzahl (etwa 94 Prozent) Frauen und Kinder, in den Internierungslagern Al-Hol und Roj fest. Niemand in diesen Lagern war angeklagt worden oder hatte die Möglichkeit erhalten, die Inhaftierung vor einer unabhängigen Justizbehörde anzufechten. In beiden Lagern leiden die Menschen unter unhygienischen, unmenschlichen und lebensbedrohlichen Bedingungen sowie mangelndem Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung.

Im Lager Al-Hol herrscht ein hohes Maß an geschlechtsspezifischer Gewalt. Dazu gehören Angriffe auf Frauen durch IS-Mitglieder wegen vermeintlicher „moralischer“ Verstöße und sexuelle Ausbeutung durch Sicherheitskräfte und Privatpersonen. Es gibt vor Ort keine angemessenen Schutz- oder Unterstützungsmechanismen für gefährdete Frauen.

Zahlreiche syrische Frauen und auch einige Mädchen wurden aus den Lagern in Hafteinrichtungen gebracht. Viele Frauen, die wegen Straftaten im Zusammenhang mit dem IS verurteilt wurden, schilderten Amnesty International, dass sie gefoltert wurden, um ein „Geständnis“ zu erpressen; Berichten zufolge wurden einige Frauen im Lager Al-Hol im Zusammenhang mit gewaltlosen Handlungen zur Sicherung ihres Überlebens verurteilt. Auch Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit wurden in Hafteinrichtungen gebracht, dort verhört und für längere Zeiträume ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten.

Vergessene Opfer des IS

Trotz Bemühungen seitens der Autonomiebehörden, jesidische Opfer der von den Vereinten Nationen als Völkermord anerkannten Verbrechen ausfindig zu machen und zurückzuführen, wird davon ausgegangen, dass eine große Zahl von ihnen, womöglich sogar Hunderte, sich nach wie vor in Haft befinden. Bei vielen anderen Frauen und Kindern in den Internierungslagern und Hafteinrichtungen handelt es sich um Überlebende von Gräueltaten und Menschenhandel durch den IS.

In den Berichten von 27 Frauen und Kindern fanden sich außerdem Hinweise, dass sie vom Menschenhandel durch den IS betroffen waren, darunter in Form der Zwangsunterbringung in madafas (geschlossenen Häusern für Frauen) oder der Zwangsverheiratung junger Mädchen. Viele Jungen wurden gezwungen, für den IS zu arbeiten oder zu kämpfen. Trotz des weitverbreiteten Menschenhandels durch den IS gibt es keine Mechanismen, um davon Betroffene ausfindig zu machen und ihnen Schutz und Unterstützung zu bieten.

Unfaire Gerichtsverfahren

Nach Angaben der Autonomiebehörden haben spezialisierte Gerichte in den letzten zehn Jahren Verfahren gegen mehr als 9.600 Personen geführt, die Verbindungen zum IS haben sollen, darunter auch Frauen und Kinder. Bei nahezu allen Angeklagten handelt es sich um syrische, bei einigen wenigen auch um irakische Staatsangehörige.

Diese Verfahren zeichneten sich durch Menschenrechtsverletzungen aus, unter anderem durch „Geständnisse“, die durch Folter oder andere Misshandlungen erzwungen wurden, sowie durch das Fehlen von Rechtsbeiständen in allen Prozessphasen.

Angesichts des Fehlens jeglicher Garantien für ein faires Gerichtsverfahren reicht schon die Anschuldigung aus, eine Person könne mit dem IS in Verbindung stehen, um diese viele Jahre lang willkürlich in Haft zu bringen. Amnesty International hat 18 Berichte festgehalten, in denen die Befragten angaben, fälschlich beschuldigt worden zu sein, Verbindungen zum IS zu unterhalten.

Frauen wurden auch im Zusammenhang mit den Taten ihrer Ehemänner wegen „terroristischer“ Verbrechen verurteilt, unter anderem deshalb, weil sie die Behörden „nicht informiert“ hätten, ohne dass eine etwaige Nötigung berücksichtigt worden wäre. Minderjährige waren mit den gleichen unfairen Strafverfahren konfrontiert, ohne Kontakt zu ihren Eltern oder einem Erziehungsberechtigten zu haben.

Keine der im Nordosten Syriens inhaftierten Personen wurde wegen Verbrechen nach dem Völkerrecht, wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord strafrechtlich belangt. Die meisten Anklagen wurden vielmehr wegen weit gefasster „Terrorismus“-Delikte erhoben. Viele schwere Verbrechen, die vom IS begangen wurden, darunter sexuelle Versklavung, wurden überhaupt nicht untersucht.

Methodik

Amnesty International hat für diesen Bericht insgesamt 126 Personen (persönlich und telefonisch) befragt, denen eine Verbindung zum Islamischen Staat vorgeworfen wird und die sich aktuell in Hafteinrichtungen oder Lagern befinden oder in diesen befunden haben. Weitere Interviews führte Amnesty International mit 39 Vertreter*innen der Autonomiebehörden, 53 Mitarbeiter*innen von nationalen und internationalen NGOs sowie 25 Vertreter*innen der Vereinten Nationen. Insgesamt hat Amnesty International für diesen Bericht mit 314 verschiedenen Personen gesprochen.

Mitarbeiter*innen von Amnesty International reisten zwischen September 2022 und August 2023 dreimal in den Nordosten Syriens, um in den beiden Lagern und in zehn Hafteinrichtungen Interviews zu führen. Außerdem hat sich Amnesty International in Briefings und schriftlich ausführlich mit den Autonomiebehörden und der US-Regierung über die Ergebnisse des Berichts ausgetauscht. Beide haben schriftlich geantwortet.

Die Autonomiebehörden wiesen auf die schwierigen Bedingungen hin, mit denen sie konfrontiert seien und zu denen auch andauernde bewaffnete Konflikte gehörten. Sie kritisierten die „internationale Gemeinschaft und die globalen Partner“, die „ihren rechtlichen und moralischen Verpflichtungen“ nicht nachgekommen seien, und erklärten, Länder mit in Syrien inhaftierten Staatsangehörigen sowie die internationale Gemeinschaft hätten sie „bei der Bewältigung der Folgen“ des Kampfes gegen den IS allein gelassen.

Das US-Außenministerium führte in seiner Antwort die Bemühungen der USA zur Bewältigung der „gravierenden humanitären und sicherheitspolitischen Herausforderungen“ im Nordosten Syriens an. Es forderte alle Akteure in Syrien, auch die SDF, eindringlich dazu auf, „die Menschenrechte zu wahren“, und wies darauf hin, dass die Gruppen und Personen innerhalb der SDF, mit denen es zusammenarbeite, „angemessen überprüft“ worden seien. Dem US-Außenministerium zufolge besteht die einzige Lösung in der „Rückführung und Abschiebung vertriebener Personen und Inhaftierter in ihre Herkunftsländer“, damit die Schuldigen „im Rahmen angemessener, die Rechte achtender Gerichtsverfahren für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können“.