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Äthiopien: Amnesty-Recherchen belegen Massaker an Zivilbevölkerung

16. November 2020

Recherchen von Amnesty International zeigen, dass in der Nacht des 9. November in der Stadt Mai-Kadra im Südwesten der äthiopischen Region Tigray Dutzende oder gar Hunderte Menschen mit Messern und Macheten getötet worden sind.

Unsere Expert*innen haben zahlreiche Foto- und Videoaufnahmen ausgewertet und verifiziert. Auf den Bildern ist zu sehen, wie in der ganzen Stadt Leichen gefunden und aufgebahrt werden. Amnesty bestätigte, dass die Aufnahmen vor Kurzem angefertigt wurden, und verifizierte mithilfe von Satellitenaufnahmen, dass der Ort des Geschehens tatsächlich Mai-Kadra in der Region Tigray ist (14.071008, 36.564681).

„Wir konnten bestätigen, dass ein Massaker an zahlreichen Zivilist*innen stattgefunden hat, die allem Anschein nach Tagelöhner*innen waren und nichts mit der anhaltenden Militäroffensive zu tun hatten“, sagt Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International.

Den wahren Umfang des schrecklichen Geschehens können wir noch nicht absehen, da Tigray zum Großteil von der Außenwelt abgeschnitten ist.

Deprose Muchena, Regionaldirektor für das südliche Afrika bei Amnesty International

„Die Regierung muss die Kommunikationskanäle nach Tigray wiederherstellen, um Rechenschaftspflicht und Transparenz für ihren Militäreinsatz in der Region zu gewährleisten. Zudem müssen humanitäre Einrichtungen und Organisationen zur Beobachtung der Menschenrechtslage uneingeschränkten Zugang zu der Region erhalten. Amnesty International wird nach wie vor alle Mittel einsetzen, um Menschenrechtsverstöße seitens aller Konfliktparteien zu dokumentieren und aufzudecken.“

Menschen mit Macheten, Äxten und Messern angegriffen

Mitarbeiter*innen von Amnesty haben mit Augenzeug*innen gesprochen, die das Militär mit Lebensmitteln und anderen Gütern versorgten und am Morgen des 10. November, also unmittelbar nach dem tödlichen Angriff, in Mai-Kadra eintrafen. Sie fanden in der ganzen Stadt Leichen und Verletzte vor.

Berichten von Augenzeug*innen und verifizierten Bildern zufolge wurden die meisten Toten im Stadtzentrum nahe eines Gebäudes der Commercial Bank of Ethiopia sowie entlang einer Straße nach Humera aufgefunden.

Nach Amnesty International vorliegenden Informationen hatten die Leichen klaffende Wunden, die offenbar von scharfen Waffen wie Messern und Macheten stammten. Diese Berichte sind von einem unabhängigen Pathologen bestätigt worden. Laut Berichten von Augenzeug*innen waren keine Schusswunden sichtbar.

Die Augenzeug*innen gaben an, dass sie gemeinsam mit Angehörigen des Militärs einige Verwundete fanden und diese in Krankenhäuser in Abreha-Jira und Gondar brachten, bevor sie die Leichen aus den Straßen entfernten.

„Die Verletzten sagten, sie seien mit Macheten, Äxten und Messern angegriffen worden. Die Wunden der Toten lassen ebenfalls darauf schließen, dass sie durch scharfe Objekte verursacht wurden. Es ist furchtbar und es macht mich traurig, dies in meinem Leben mitansehen zu müssen“, berichtete ein verstörter Zeuge.

Amnesty International kann bisher nicht bestätigen, wer für die Tötungen verantwortlich ist. Die Organisation hat jedoch mit Augenzeug*innen gesprochen, die angaben, dass Unterstützer*innen der Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People’s Liberation Front – TPLF) die Massentötung zu verantworten haben. Offenbar hatte das Militär zuvor in einem Gefecht einen Sieg über die TPLF errungen.

Die äthiopischen Behörden müssen unverzüglich eine gründliche, unparteiische und zielführende Untersuchung dieses Angriffs auf die Zivilbevölkerung einleiten und die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht stellen.

Deprose Muchena

Noch steht die offizielle Zahl der Opfer in Mai-Kadra nicht fest. Die Medienagentur der Regionalregierung von Amhara, AMMA, berichtete jedoch von etwa 500 Opfern. Ein Mann, der half, die Leichen zu bergen, sagte Amnesty International, dass er anhand der Ausweispapiere einiger Getöteten erkennen konnte, dass die meisten von ihnen der ethnischen Gruppe der Amharen angehörten.

Hintergrund

Am 4. November 2020 entsandte Ministerpräsident Abiy Ahmed das äthiopische Militär in die Region Tigray, um gegen die paramilitärische Polizei der dortigen Regionalregierung und die Milizen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) vorzugehen. Er reagierte damit eigenen Angaben zufolge auf wiederholte Angriffe der Sicherheitskräfte von Tigray auf einen Militärstützpunkt in Mekelle und andere Militärlager in der Region.

Seit Ausbruch des Konflikts kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen staatlichen Truppen (wie dem Militär, der Spezialpolizei der Region Amhara und lokalen Milizen in Amhara) einerseits und bewaffneten Einheiten in Tigray (wie der Spezialpolizei und den Milizen in Tigray) andererseits.

Das Verteidigungsministerium und der Ministerpräsident haben erklärt, dass die äthiopische Luftwaffe mehrere Luftangriffe gegen Militäreinrichtungen der TPLF durchgeführt habe. Der Ministerpräsident und Armeechef gaben an, weiterhin Luftangriffe auf spezielle nicht-zivile Ziele vornehmen zu wollen und wiesen die Anwohner*innen an, sich von Waffendepots und anderen militärischen Zielen fernzuhalten. 

Laut Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) waren bis zum 11. November ungefähr 7.000 Menschen aus dem Westen der Region Tigray in das Nachbarland Sudan geflohen.