
„In der Revolte und Bedrängnis schafft der Mensch die beste Kunst“
6. Mai 2025Aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Mai 2025
Theaterregisseur und Intendant der Wiener Festwochen Milo Rau im Interview über die verändernde Kraft des Theaters, die Notwendigkeit offener Räume und die inspirierende Wirkung des Widerstands gegen Autoritäten.
Von Julia Trampitsch
Amnesty: In Ihren Arbeiten beschäftigen Sie sich häufig mit Machtstrukturen und Autorität. Woher kommt Ihr Interesse daran?
Milo Rau: Als Soziologe betrachte ich die Dinge immer strukturell. Unser Verhalten, der Umgang miteinander, unsere Gefühle und letztlich auch die Frage, wer wir sind, wird maßgeblich davon beeinflusst, wie wir leben, wie wir erzogen wurden und in welchen Strukturen wir eingebettet sind. Deshalb frage ich mich immer: Warum ist passiert, was passiert ist? Warum ist dieses Verbrechen geschehen? Warum haben Menschen zum Beispiel den Völkermord in Ruanda begangen? Wie konnte eine Ideologie oder ein Staat so viel Macht, so viel Autorität über die Menschen in Deutschland und Österreich erlangen, dass es zum Faschismus kam? Das sind die Fragen, die mich viel mehr interessieren als die individuelle Zuschreibung von Schuld und Autorität. Der soziologische Blick sagt: Du kannst nichts, was wir tun, nur dem Individuum zuschreiben.
Welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen, warum Gesellschaften immer wieder zu autoritären Strukturen zurückkehren – gerade auch in der heutigen Zeit?

Aus der Perspektive langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen lässt sich vermuten, dass die liberale demokratische Zivilisation langsam zu Ende geht. In den letzten sechzig bis siebzig Jahren wurden die konservativen Werte im Sinne der Befreiung des Individuums dekonstruiert. Dadurch wurde vieles möglich. Doch Dinge, die früher normiert und automatisiert waren, funktionieren heute nicht mehr. Das ist das Schöne, aber auch das Gefährliche an der aktuellen Situation: Nichts gilt mehr.
Klimawandel, Ressourcenknappheit und soziale Ungleichheit prägen unsere Zeit. Das Streben nach Wohlstand findet oft auf Kosten der Gerechtigkeit statt – das ist die dunkle Fratze des Kapitalismus, die sich jetzt zeigt. Während wir im Westen uns immer an unseren Wohlstand klammern, fragen sich Milliarden, auf deren Rücken wir ihn erwirtschaftet haben: Was ist mit uns? Wir befinden uns in einer apokalyptischen Unrechtslage, ohne Lösungen. Ängste, Schlaflosigkeit und das Gefühl des Ungenügens sind allgegenwärtig. Viele Menschen fühlen sich orientierungslos und suchen nach einem neuen System – und das ist klassischerweise ein autoritäres.
Wie kann Theater genutzt werden, um diese autoritären Entwicklungen zu dekonstruieren und welche Methoden sind dabei besonders wirksam?
Zum einen geht es darum, Räume zu schaffen, in denen Antagonismen gehört werden und eine andere Zeitlichkeit stattfindet – eine Vertiefung und ein Versuch, den Anderen zu verstehen. Mein Format der Theater-Prozesse ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn man etwa sieben Stunden lang den Beweggründen eines FPÖ-Redners oder einer sogenannten Corona-Leugnerin zuhört, beginnt man plötzlich zu verstehen.
Ebenso wichtig ist es, Verbindungen zu schaffen: Ein Beispiel dafür ist die RESISTANCE NOW! Tour, die in Dutzenden von Ländern aufgeführt wurde und woraus eine Petition zum Schutz der künstlerischen Freiheit entstand. Auslöser waren die Entlassungen des Direktors des Nationaltheaters und der Leiterin der Nationalgalerie in der Slowakei. Während der Tour wurde deutlich, dass überall ähnliche Probleme bestehen, aber viel zu wenig miteinander gesprochen wird. Das große Echo zeigte, wie wichtig es ist, sich zusammenzuschließen und auf europäischer Ebene zusammen zu arbeiten.
Und diese beiden Komponenten versuchen Sie auch bei den Wiener Festwochen zu verbinden?
Als Crossover-Festival möchten wir den großen Fragen unserer Zeit Raum geben – Fragen, die oft unzureichend diskutiert werden, weil echte Begegnungen und Austausch immer seltener werden. Wir möchten ein Raum sein, der sensibler, genauer und menschlicher ist. Ein inspirierendes Beispiel liefert Nicolaj Schultz, den wir in diesem Jahr auch eingeladen haben, mit seinem Buch „Land Sickness“, in dem er sich mit dem Begriff des „neuen Existenzialismus‘“ auseinandersetzt. Inspiriert vom klassischen Existenzialismus, stellt er darin die Frage: Wie können wir menschlich sein in einer Welt, in der eine Katastrophe auf die andere folgt? Diese Frage treibt auch uns an.
Braucht es das Theater also, um uns vor Augen zu führen, worüber wir reden müssen?
Alles, was nicht zeitlich und räumlich direkt vor unseren Augen liegt, geht uns seltsamerweise nichts an. Und die Mediensysteme haben daran leider auch nicht viel geändert. Wir können die Augen vor der Realität verschließen, weil es kein Problem ist, sich nur in Kreisen zu bewegen, in denen alle einer Meinung sind. Hier können wir uns im Theater zumindest bemühen, uns nicht nur in der eigenen Blase zu widerzuspiegeln – das ist unsere Anstrengung.
Im letzten Jahr lösten einzelne der bei den Wiener Festwochen eingeladenen Künstler*innen Kontroversen aus. Wie gehen Sie damit um?
Wir versuchen strukturell zu verstehen, wie wir als Institution damit umgehen und wie wir aus dieser Erfahrung lernen können. In diesem Jahr haben wir einen Kongress über Culture Wars, wo wir uns genau diese Fragen stellen: Warum werden Künstler*innen gecancelt? Wie können wir damit umgehen? Und wo gibt es wirklich Gründe, jemanden zu canceln?
Natürlich gibt es Dinge, die einfach nicht in Ordnung sind. Aber manchmal muss man auch fragen: Wie können wir konstruktiv damit umgehen? Ein Fall, den wir verhandeln werden, ist Otto Mühl (redaktionelle Anmerkung: österreichischer Künstler und verurteilter Sexualverbrecher). Da stellt sich nicht die Frage, muss man jetzt all seine Kunstwerke verbrennen, sondern vielleicht eher, ob etwas von diesen Millionenwerten an die Opfer gehen sollte. Da würde es Sinn machen, dass es diese Durchdringung von Kapitalmacht und Kunst gibt.
Warum polarisiert gerade das Theater so oft?
Mich hat immer wieder erstaunt, wie Themen, die medial oder in Filmen längst bearbeitet wurden, auf der Bühne plötzlich Skandale auslösen. Es scheint, als ob das Theater immer noch ein symbolischer Ort ist, an dem wir ausmachen, was in Ordnung ist und was nicht. Ähnlich wie Universitäten fungiert es als Raum für Diskurs und Grenzauslotung. Dafür bin ich sehr dankbar.
Sehen Sie in den aktuellen Debatten der Theater- und Kulturszene selbst autoritären Tendenzen?
Ich glaube, dass wir als Festival oder als Theatermacher diese riskanten Räume, die „on the edge“ sind, verteidigen müssen. Und angesichts der vielen Spaltungen sagen: Nein, nicht bei uns! Wenn man diesen Raum nicht verteidigt – und es ist mir egal, ob diese Diktatur jetzt von links oder von rechts oder von oben oder von unten kommt – wenn man die Meinungsfreiheit nicht verteidigt, natürlich mit allem Respekt und mit aller emotionalen Intelligenz, dann ist es extrem schnell vorbei damit.
Gibt es im Theater Formen von Autorität, die notwendig oder sogar produktiv sind?
Als Regisseur bin ich davon überzeugt, dass es manchmal unumgänglich ist, auf eine bestimmte Vorgehensweise zu bestehen, weil es anders schlichtweg nicht funktioniert. Auch bringt jede und jeder eine jeweilige Expertise mit, die man respektieren muss. Zugleich ist man gemeinsam eben schlauer, auch sind ergebnisoffene Prozesse oft die besten. Es ist also entscheidend, ein Gleichgewicht zu finden.
Glauben Sie, dass Theater gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann?
Ich würde nicht daran glauben, wenn ich nicht immer wieder von der gesellschaftsverändernden Kraft des Theaters überrascht worden wäre. Theater verändert Zuschauer, die Beteiligten und auch die Produktionsstrukturen. Wir haben viele Projekte umgesetzt, die Arbeit, Freiheit und Sichtbarkeit für bestimmte Gruppen forderten oder Probleme lösen sollten. Dabei zeigt sich, wie effektiv Theater sein kann – auch wenn seine Einflusskraft begrenzt ist. Unser Ziel ist, eine gesellschaftspolitische Kraft zu sein. Wir lehnen das bürgerliche Klischee ab, Kunst sei getrennt von der Wirklichkeit. Für uns sind Kunst und Wirklichkeit das gleiche – jede Wirklichkeit war einmal Kunst.
Ich glaube, dass der Mensch in der Revolte und vielleicht auch in der Bedrängnis die beste Kunst schafft. Ich kenne nur sehr wenige Beispiel, wo Diktaturen große Kunst gemacht haben, die über Propaganda hinausgegangen ist. Kurz gesagt: Gutes Theater, gute Kunst gibt es nur im Widerstand gegen die Vorurteile der eigenen Zeit.
Milo Rau
Ist das Theater also wichtiger denn je in einer Zeit, in der autoritäre Systeme an Stärke gewinnen?
Das Theater ist die Brutstätte der Zukunft. Wenn wir zurückblicken auf die Zeit, in der die großen Texte der französischen Literatur geschrieben wurden, nehmen wir Camus oder Simon de Beauvoir, dann war das seltsamerweise alles während des Faschismus. Zwar wurden sie erst in den 50er Jahren finanziell richtig verwertet, aber die meisten Texte sind in den 30er, 40er Jahren entstanden. Ich glaube, dass der Mensch in der Revolte und vielleicht auch in der Bedrängnis die beste Kunst schafft. Ich kenne nur sehr wenige Beispiel, wo Diktaturen große Kunst gemacht haben, die über Propaganda hinausgegangen ist. Kurz gesagt: Gutes Theater, gute Kunst gibt es nur im Widerstand gegen die Vorurteile der eigenen Zeit. Und da bin ich völlig wertlos, wenn ich sage, dass weder linke noch rechte Utopien der Kunst helfen. Ich habe viel linke „korrekte“ Kunst gesehen, wo ich dachte: Das ist schon richtig, aber eben Erziehungsprogramm. Und das Gleiche natürlich in der sogenannten konservativen „Volkskunst“, wo man denkt, das ist eine Welt, in der ich nicht leben will. Wirklich unabhängige Kunst hat es im Moment immer schwerer.

Hate Radio:
In dem 2011 uraufgeführten Theaterstück „Hate Radio“ rekonstruiert der Regisseur Milo Rau die Rolle des gleichnamigen Radiosenders während des Genozids in Ruanda 1994. In 100 Tagen Blutvergießen wandten sich Nachbarn gegeneinander, angeheizt durch eine Radiokampagne, die Angehörige der Tutsi-Minderheit dämonisierte. Das Stück untersucht die Machtmechanismen, die der Radiosender nutzte, um ethnischen Hass und Mordaufrufe zu verbreiten.

Antigone im Amazonas:
„Antigone in the Amazon“ von Milo Rau wurde 2023 in Belgien uraufgeführt. In Pará, Brasilien, wo Wälder für Soja-Monokulturen brennen, trifft Sophokles’ Tragödie auf Dokumentartheater. Das Stück zeigt den Konflikt zwischen Kapitalismus und dem Wunsch nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Indigene Künstler*innen und Aktivist*innen spielen zentrale Rollen. Als letzter Teil von Raus Antiken-Trilogie vereint es bewegende Tragödie mit politischer Dringlichkeit.

Die Wiener Kongresse:
Zwei Jahrhunderte nach den Wiener Kongressen bringen die Wiener Festwochen 2025 gesellschaftspolitische Debatten in neuen Wiener Kongressen auf die Bühne. Im Fokus steht das Verhältnis von Kunst, Macht und Machtmissbrauch. Ziel ist, die roten Linien der Cancel Culture und die Verstrickungen hinter Machtmissbrauch und #MeToo neu zu verhandeln. Eine Jury aus Expert*innen, Sachverständigen und Abgesandten des Rates der Republik befragt prominente Zeug*innen, Fachleute und Akteur*innen der Zeitgeschichte unter der Leitung ausgewiesener Jurist*innen.
Julia Trampitsch ist Teil der Amnesty Magazin-Redaktion
Milo Rau ist Schweizer Regisseur, Autor und seit 2024 Intendant der Wiener Festwochen. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich, u.a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Seine Arbeiten zeichnen sich besonders durch die Verbindung zwischen Aktivismus und Theater aus. Zu seinen bekanntesten Stücken zählen Hate Radio (2011), Breiviks Statement (2012), Das Kongo Tribunal (2015) und Antigone im Amazonas (2023).
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