Ein Mann schwenkt eine georgische Nationalflagge vor einer brennenden Barrikade während andere unweit des georgischen Parlamentsgebäudes in Tbilisi, Georgien, protestieren. © Zurab Tsertsvadze / AP / Picturedesk.Com
Ein Mann schwenkt eine georgische Nationalflagge vor einer brennenden Barrikade während andere unweit des georgischen Parlamentsgebäudes in Tbilisi, Georgien, protestieren. © Zurab Tsertsvadze / AP / Picturedesk.Com
aus dem magazin

Georgischer Traum vom russischen Weg

6. Mai 2025

Aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Mai 2025

Zuerst ein „Agentengesetz“ gegen Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien. Dann eine Parlamentswahl voller Betrug und Bestechung. Aber noch immer wehrt sich die georgische Zivilgesellschaft. 

Aus Tbilisi von Tigran Petrosyan 

In einem mehrstöckigen Haus abseits des Zentrums der georgischen Hauptstadt Tbilisi hat das zehnköpfige Team des unabhängigen Online-Mediums Sova.News eine Wohnung in einen modernen Newsroom verwandelt. Während die Chefredakteurin Marta Ardashelia in einem Videocall den Tagesablauf bespricht, packt eine junge Journalistin sorgfältig einige Taschen für ihre Kolleg*innen. Die Taschen haben einen ungewöhnlichen Inhalt: Gasmasken und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Denn die Berichterstatter*innen von Sova.News werden wieder von einer der vielen lautstarken Demonstrationen gegen die Regierung berichten, die seit Herbst 2024 im Zentrum von Tbilisi andauern. Die Polizei geht dort nicht nur rigoros gegen Demonstrant*innen vor, sondern auch gegen die kritische Presse Georgiens.

Seit der Parlamentswahl am 26. Oktober 2024 ist die Südkaukasusrepublik in Aufruhr: Laut offiziellem Wahlergebnis errang die Regierungspartei Georgischer Traum des Oligarchen Bidsina Iwanischwili eine deutliche Mehrheit. Die Opposition spricht hingegen von Wahlbetrug, Erpressung und Bestechung; sie sieht den Georgischen Traum mit Russland im Bunde und fordert Neuwahlen. 

Seither gibt es täglich Proteste, denn es geht um die Zukunft des Landes: Wird Georgien noch stärker als bisher unter russischen Einfluss geraten und zunehmend autokratisch regiert? Oder nähert sich das Land weiter der Europäischen Union an? Seit 2023 ist Georgien offiziell Beitrittskandidat. Ende November 2024 kündigte die Regierung jedoch an, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Der Weg nach Europa ist seit der Parlamentswahl steinig geworden, doch bereits die vergangenen Jahrzehnte waren von einem politischen Zickzackkurs geprägt. 

Verteidigerin der Protestbewegung

Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Nino Lomjaria sieht die Zukunft ihres Landes düster: „Wer wissen will, was auf uns zukommt, sollte sich die Entwicklungen in Russland und Belarus anschauen.“ Doch fügt sie sogleich hinzu: 

Das heißt nicht, dass wir Angst haben oder nicht bereit sind, uns zu wehren. Das tun wir.

Nino Lomjaria, Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin

Lomjaria war fünf Jahre alt, als sie 1989 zum ersten Mal auf die Straße ging: Ihre Eltern hatten sie damals in Tbilisi aus dem Kindergarten abgeholt und zu einer Demonstration gegen die sowjetische Herrschaft mitgenommen. Schon als Schülerin und später als Studentin machte sie bei fast allen demokratischen und pro-europäischen Bewegungen in Georgien mit. Für sie war das mehr als nur politisches Engagement, es war vielmehr „ein tief verwurzelter Teil der georgischen Geschichte, ein Akt der Freiheit und des Widerstands“. Heute, mit 41 Jahren, setzt sie sich als Rechtsanwältin vehement für die Rechte Demonstrierender ein, die in Georgien harten Repressionen ausgesetzt sind.

In einem mehrstöckigen Gebäude in einer Seitenstraße der zentralen Rustaweli-Avenue in Tbilisi haben mehrere Nichtregierungsorganisationen ihren Sitz. Lomjaria, in rotem Kleid und schwarzem Blazer, sitzt lächelnd an einem großen Tisch in einem Konferenzsaal. Dort spricht sie häufiger mit der Presse. Sie genießt hohes Ansehen als Verteidigerin der Protestbewegung und unbequeme Kritikerin der Regierungspartei. Seit Jahren dokumentiert sie Menschenrechtsverletzungen, insbesondere in Bezug auf Polizei, Justiz und Strafvollzug– trotz politischem Druck. Lomjaria gründete außerdem die Organisation Georgias European Orbit, um die Integration des Landes in die EU voranzutreiben.

Ihre Arbeit wurde auch international gewürdigt. Das US-Außenministerium verlieh ihr 2023 den Global Human Rights Defender Award, und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ehrte sie mit einem Verdienstorden für ihren herausragenden Beitrag zum Aufbau der Demokratie in Georgien. Von 2018 bis 2022 war sie Menschenrechtsbeauftragte des Landes.

Nach der manipulierten Wahl im Oktober gründete ihre Organisation gemeinsam mit anderen die Wahlbeobachtungsmission My Vote. „Wir haben Hunderte von Beweisen aus mehr als 1.000 Wahllokalen dokumentiert“, sagt sie und zeigt auf ihrem Laptop entsprechende Fotos und Videos: „Stimmabgaben mit fremdem Personalausweis, Verletzung des Wahlgeheimnisses, körperliche Gewalt, unbefugte Personen, mehrfach abgegebene Stimmen und Einschüchterung.“

Im Dezember veröffentlichte My Vote zudem einen Bericht über die Repression gegen Demonstrant*innen: Über 450 Festnahmen, mindestens 300 Personen wurden Opfer von Gewalt, Folter und anderweitiger Misshandlung. Rund 80 Journalist*innen wurden attackiert, teils von „Tituschkis“ – Männern, die ohne Kennzeichnung an der Seite der Polizei agieren. 

Bei Demonstrationen tragen Teilnehmer*innen oft Helme, um sich zu schützen: Café in Tbilisi, Dezember 2024.  © Sitara Thalia Ambrosio/laif/picturedesk.com
Bei Demonstrationen tragen Teilnehmer*innen oft Helme, um sich zu schützen: Café in Tbilisi, Dezember 2024. © Sitara Thalia Ambrosio/laif/picturedesk.com

Hunderttausende gegen das Agentengesetz 

Im Dezember 2024 beschloss das Parlament ohne die Stimmen der Opposition, die die Sitzung wegen des Wahlbetrugs boykottierte, ein Gesetz, das das unbefugte Anbringen von Aufschriften, Zeichnungen oder Symbolen an den Fassaden von Verwaltungsgebäuden sowie in deren Umgebung strafbar macht. Damit hat die Polizei nun freie Hand, gegen Protestierende vorzugehen. Allein am 11. und 12. Januar 2025 wurden mehr als 20 Aktivist*innen, Medienvertreter*innen und Oppositionelle inhaftiert.

Am 5. Februar kündigte die Regierungspartei Georgischer Traum neue Gesetze an, die die Arbeit unabhängiger Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen noch stärker einschränken würden. Noch handelt es sich um Gesetzentwürfe, viele Demonstrant*innen befürchten jedoch noch massivere Repressionen und kündigten weitere Proteste an. 

Bereits im Frühjahr 2024 gingen Hunderttausende gegen das „Gesetz über ausländische Agenten“ auf die Straße, das NGOs und Medien mit ausländischer Finanzierung als „Vertreter ausländischer Interessen“ brandmarkt – ähnlich wie in Russland.

Kurz darauf startete die Regierung eine gezielte Kampagne gegen die Zivilgesellschaft. Überall in Tbilisi – in den Straßen, an Gebäuden, in der U-Bahn und an Bushaltestellen – hingen Plakate, die Gesichter von Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zeigten und sie als „Feinde des Volkes und der Kirche“ diffamierten. Reste dieser Plakate sind immer noch zu sehen, darunter auch ein Porträt von Nino Lomjaria. An ihrer Wohnungstür fand sie Schmierereien vor, die sie als „lesbische Agentin“ und „Volksverräterin“ beschimpften. Ihr Auto und das ihres Ehemannes wurden beschädigt. Ihre Familie erhielt fast täglich Drohanrufe.

Verbündeter der autokratischen Welt 

Die georgische Regierung und ihre russischen Verbündeten verfolgen mit ihrem Vorgehen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen. „Alles hängt miteinander zusammen: Geschäftsinteressen, Oligarchen, Russland“, sagt Lomjaria. 

Undemokratische Praktiken sind allgegenwärtig, es geht um Offshore-Konten und undurchsichtige Geschäfte der Regierung. Georgien ist ein Verbündeter der autokratischen Welt.

Nino Lomjaria, Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin

Auch die Menschenrechtsanwältin Kety Abashidse ist zunehmend besorgt, was die Entwicklung des Landes betrifft. Als Senior Human Rights Officer der internationalen Organisation Human Rights House Foundation mit Sitz in Oslo und einer Vertretung in Tbilisi beobachtet sie die Menschenrechtslage in der gesamten Kaukasusregion. 

Bevor sie sich in das Büro ihrer Organisation begibt, hält sie am Park des 9. April, gegenüber vom Parlamentsgebäude. Am Abend werden dort erneut Oppositionspolitiker*innen und andere kritische Stimmen lautstark gegen die Regierung protestieren. Doch noch ist es ruhig zwischen den kahlen Bäumen. Wenn es wärmer wird, treffen sich dort Liebespaare am Springbrunnen.  

Der Name des Parks erinnert an ein grausames Kapitel georgischer Geschichte: Am 9. April 1989 schlug die Rote Armee in Tbilisi eine antisowjetische und antirussische Demonstration gewaltsam nieder. Rund 20 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, unter anderem durch den Einsatz von Giftgas. Es war die Zeit der Perestroika, als die Unabhängigkeitsbewegungen in vielen Sowjetrepubliken immer lauter wurden, auch in Georgien.

Abashidze geht langsam an den Namensschildern der Opfer vorbei und zieht ihren langen Mantel enger. „Diese Menschen dürfen nicht umsonst gestorben sein. Als Gesellschaft müssen wir diesen Kampf weiterführen und uns friedlich gegen den Autoritarismus wehren“, sagt sie.

Doch um diesen Kampf stehe es nicht gut. Abashidze erinnert sich an das Pride-Festival im Juli 2021, mit dem queere Menschen in Tbilisi sichtbar werden und ihre Rechte einfordern wollten. Doch Mitglieder rechtsextremer Gruppen attackierten Aktivist*innen und Journalist*innen auf der Straße und griffen Büros von Menschenrechtsorganisationen gewaltsam an, sodass die geplante Parade schließlich abgesagt werden musste.

„Diese Gewalt wurde von der Regierung geduldet, wenn nicht sogar indirekt unterstützt“, sagt Abashidze. „In einem solchen Klima werden Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden. Die Regierung erklärt, der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte und der Kampf gegen Korruption bedrohe den Staat. Letztlich wird alles, was wir einmal als erstrebenswerte Teile des demokratischen Staatsaufbaus betrachtet haben, nun zur Bedrohung des Staats umdefiniert.“

In der Innenstadt von Tbilisi solidarisieren sich viele Restaurants und kulturelle Institutionen mit den Protesten. Eine Gruppe junger Menschen isst in einem Café zu Abend, oder wie sie selbst sagen: “Wir stärken uns, bevor wir wieder Protestieren gehen.”  © Sitara Thalia Ambrosio/laif/picturedesk.com
In der Innenstadt von Tbilisi solidarisieren sich viele Restaurants und kulturelle Institutionen mit den Protesten. Eine Gruppe junger Menschen isst in einem Café zu Abend, oder wie sie selbst sagen: “Wir stärken uns, bevor wir wieder Protestieren gehen.” © Sitara Thalia Ambrosio/laif/picturedesk.com

Auch Geflohene geraten unter Druck 

Auch Exilant*innen aus Belarus, Russland und Aserbaidschan, die wegen der Repressionen in ihren Heimatländern in Georgien Schutz suchten, geraten unter Druck. Viele kritische Medienschaffende und Aktivist*innen versuchen, aus dem Exil heraus der Propaganda in Minsk, Moskau und Baku entgegenzuwirken. Die Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die staatliche Kontrolle der Arbeit von NGOs und Medien treffen all diese Menschen schwer. Sie müssen sich jetzt mit der russlandnahen Politik der georgischen Regierung auseinandersetzen, und viele von ihnen geraten erneut in Gefahr. 

Die georgischen Behörden und staatlichen Fernsehsender verbreiten unterdessen russlandfreundliche Berichte, die an Propaganda grenzen. Sova.News setzt dem mit kritischer Berichterstattung entgegen. Die Journalist*innen berichten auch in einer Sprache, die viele nicht mehr hören wollen: auf Russisch. Denn insbesondere in den großen Städten und in der älteren Generation ist Russisch noch weit verbreitet. Jeden Monat erreicht Sova.News mit seiner Berichterstattung bis zu einer Million Menschen, so Marta Ardashelia. Darunter sind auch viele Menschen in den besetzten Gebieten Abchasien und Südossetien, die der russischen Propaganda besonders stark ausgesetzt sind. Außerdem informiert Sova.News die große georgische Diaspora in ehemaligen sowjetischen Staaten, in denen Russisch noch weit verbreitet ist, sowie Menschen, die in Russland aufgewachsen und nach Georgien zurückgekehrt sind. 

Ardashelia ist selbst in Abchasien geboren und floh während des Abchasien-Krieges mit ihrer Familie nach Moskau. Nach dem Abitur zog sie nach Tbilisi, um ein neues Leben zu beginnen. Sie studierte Journalistik, arbeitete, heiratete und wurde Mutter. Heute steht die 39-Jährige erneut vor einer großen Herausforderung: 

Wir erleben eine bedrohliche Zeit für die Unabhängigkeit und Souveränität Georgiens. Die Regierung wird sich einzelne, prominente Journalist*innen heraussuchen und sie schikanieren. Wir rechnen mit weiteren Inhaftierungen.

Marta Ardashelia, Chefredakteurin von Sova.News

Schon jetzt hat Sova.News Schwierigkeiten, Werbung zu schalten. Aufgrund der kritischen Berichterstattung über Russland und die georgische Regierung winken viele Anzeigenkunden ab. Ein Teil der Förderung kommt von Staaten und Institutionen der EU. Doch sollte das Agentengesetz vollständig durchgesetzt werden, stünde die Existenz von Sova.News und anderer kritischer Medien auf dem Spiel. Denn wer sich nicht als „ausländischer Agent“ registrieren lässt, riskiert eine Strafe von 9.000 Euro, was für kleine Redaktionen eine hohe Summe darstellt. Sollte Sova.News nicht bezahlen, werde die Regierung alles konfiszieren, befürchtet Ardashelia. Damit das nicht passiert, sorgt sie vor. Sie möchte auf jeden Fall vermeiden, dass kritische Journalist*innen das Land verlassen müssen, weil sie in Georgien nicht mehr arbeiten können. Denn dann könnten Iwanischwili und sein Georgischer Traum das Land unbeobachtet und ungestört weiter zerstören.

Tigran Petrosyan ist Journalist und Leiter der Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung. Er schreibt unter anderem für die taz. die tageszeitung, ZEIT Online und Freitag.

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