Hintergrundinfo
Aktuellen Berichten zufolge sind in Russland Beschäftigte im Gesundheitswesen, zivilgesellschaftliche Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen im Zuge der Corona-Pandemie immer wieder Repressalien ausgesetzt. Einige werden verfolgt, weil sie Bedenken bezüglich knapper und mangelhafter Ausrüstung, unzureichender Schulungen, schlechter Bezahlung oder unsicherer Arbeitsbedingungen geäußert haben. Andere nur deswegen, weil sie helfen wollen. So wurde die Vorsitzende der unabhängigen Ärztegewerkschaft, Anastasia Vasilieva, am 2. April gemeinsam mit einigen Kolleg*innen in der Gegend um Novgorod von der Polizei festgenommen, als sie versuchten, ein örtliches Krankenhaus mit Schutzausrüstung zu versorgen. Sie wurde über Nacht festgehalten und dann wegen „Missachtung von polizeilichen Anweisungen“ angeklagt und mit einer Geldstrafe von 1.600 Rubel (etwa 20 Euro) belegt. Bereits im März war Anastasia Vasilieva im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu Falschnachrichten zu einer Vernehmung vor die Ermittlungesbehörden geladen worden.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Es schließt die Freiheit ein, „über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit sind zulässig, wenn sie im Gesetz eindeutig vorgesehen und für diesen Zweck nachweisbar notwendig, angemessen und nicht diskriminierend sind. Ansonsten dürfen die Behörden die Verbreitung von Informationen über die Gesundheitssituation nicht einschränken. Stattdessen müssen sie dafür sorgen, dass die Bevölkerung über das Internet oder sonstige Medien leicht an Informationen kommt. Dasselbe gilt für den Zugang zu amtlichen Informationen und sonstigen Dokumenten, die für den Schutz und die Einhaltung der von der Regierung ergriffenen gesundheitspolitischen Maßnahmen unerlässlich sind.
Staaten dürfen keine Zensur- oder Einschüchterungsversuche, Vergeltungs- und/oder Disziplinarmaßnahmen gegen Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist*innen, Beschäftigte im Gesundheitsbereich oder andere durchführen, nur weil diese versuchen, die Bevölkerung zu informieren. Mit einer unangemessenen Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und einer Informationssperre würden sie nicht nur gegen ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen verstoßen, sondern darüber hinaus den Erfolg gesundheitspolitischer Schutzmaßnahmen gefährden.
Wenn die staatliche Antwort auf die COVID-19-Pandemie aus Informationsbeschränkungen, mangelnder Transparenz und Zensur besteht, könnten die oben aufgeführten Rechte untergraben werden. Außerdem wird es für die Bevölkerung schwieriger, angemessene Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Auch den Verantwortlichen wird es dann erschwert, sich ein realistisches Bild von der Situation zu machen und koordinierte und effektive Maßnahmen gegen eine weitere Verbreitung des Virus zu ergreifen. Das Gesundheitspersonal steht im Kampf gegen die Pandemie ganz vorne und arbeitet trotz der Gefahr für sich selbst und die Angehörigen unermüdlich weiter. Zu den Risiken, denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen ausgesetzt sind, gehören die Ansteckung mit COVID-19 bei der Arbeit, lange Arbeitszeiten, psychische Belastung und Erschöpfung.
In Russland gibt es keine offizielle Statistik darüber, wie viele medizinische Fachkräfte mit COVID-19 angesteckt wurden oder daran verstorben sind. In den Medien wird jedoch von Hunderten gesprochen, die sich landesweit angesteckt haben. Auf einer nicht-staatlichen Website sind sogar Hunderte medizinische Fachkräfte aufgelistet, die im Kampf gegen die Pandemie gestorben sind. Dutzende haben sich über den Mangel an angemessener Schutzausrüstung, schlechte Arbeitsbedingungen und zu niedrige Bezahlung beschwert.