Schätzungen zufolge leben mehr als eine Million Kinder in Gegenden, die von Banden kontrolliert werden oder unter deren Einfluss stehen. Amnesty-Vertreter*innen haben Port-au-Prince im September 2024 besucht und vor Ort mit 112 Personen gesprochen. Zu den Befragten gehörten Kinder, Regierungsangehörige, Mitarbeiter*innen haitianischer und internationaler Hilfsorganisationen sowie UNO-Mitarbeiter*innen. Die Untersuchung dokumentierte Menschenrechtsverletzungen in acht Gemeinden des Départements Ouest.
Im Dezember 2024 schrieb Amnesty International an das Büro von Premierminister Alix Didier Fils-Aimé und legte ihm eine Zusammenfassung der Ergebnisse vor. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts lag noch keine Antwort vor.
Entführung und sexualisierte Gewalt
Bandenmitglieder entführen und vergewaltigen Mädchen und setzen sie anderer sexualisierter Gewalt aus, wenn sie Stadtviertel überfallen oder die Kontrolle über diese übernehmen. Mädchen werden auf der Straße oder aber gezielt in ihrem Zuhause angegriffen. Bandenmitglieder beuten Mädchen sexuell aus, sei es in "Beziehungen" oder indem sie sie zu Sexarbeit zwingen.
Amnesty International hat die Fälle von 18 Mädchen dokumentiert, die von Bandenmitgliedern vergewaltigt und anderen Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt wurden. In zehn Fällen wurden die Mädchen von einer Gruppe Männer vergewaltigt, in neun Fällen wurden sie entführt. Nach internationalem Recht sind Staaten verpflichtet, Kinder vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch, darunter auch Prostitution, zu schützen.
Zwei minderjährige Schwestern wurden auf dem Rückweg von der Schule von Bandenmitgliedern entführt und vergewaltigt, eine von fünf Männern, die andere von sechs. Eine der Schwestern sagt gegenüber Amnesty International: "Ich bin ein Kind, warum ist mir das passiert?"
Mehrere Mädchen berichteten Amnesty International, aufgrund einer Vergewaltigung schwanger geworden zu sein. Da Schwangerschaftsabbrüche in Haiti unter Strafe stehen, griffen einige von ihnen auf unsichere Methoden zurück, um ihrer unerwünschten Schwangerschaft ein Ende zu setzen.
Kinder, die gewerbsmäßig sexuelle Handlungen ausüben, sind von sexueller Ausbeutung betroffen. Ein 16-jähriges Mädchen aus einer Gegend, die unter der Kontrolle der Bande 5 Segond steht, erzählte, sie habe sich erstmalig auf gewerbsmäßigen Sex mit Bandenmitgliedern eingelassen, nachdem sie und ihr Kind wiederholt nichts zu essen hatten. Sie sagte: "Ich habe keine Wahl, Sie sehen dich und sagen, ‚Komm mit!‘. Lehnst du ab, schlagen sie dich mit einer Waffe. Sie packen dich, und sie treten dich. Einige bezahlen. Andere nicht."
Mädchen, die sexualisierter Gewalt durch Bandenmitglieder ausgesetzt waren, benötigen eine fachärztliche Behandlung, um ihre physische und psychische Genesung zu unterstützen. Die wenigen verfügbaren Gesundheitsdienste in Haiti sind jedoch immer wieder Bandenangriffen ausgesetzt.
Angesichts der allgemeinen Straflosigkeit in Haiti sehen sich Überlebende beim Zugang zur Justiz mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert. Viele der Befragten wagten es nicht, Anzeige bei den Behörden zu erstatten, da es in den von Banden kontrollierten Gebieten keine Ordnungskräfte gibt. Ein vergewaltigtes Mädchen sagte gegenüber Amnesty International: "Es gibt keine Polizei. Das Sagen haben ausschließlich die Mitglieder der Bande."
Rekrutierung von Kindern
Amnesty International befragte elf Buben und drei Mädchen, die von Banden rekrutiert und eingesetzt wurden. Sie mussten rivalisierende Banden und die Polizei überwachen, Lieferungen ausführen oder häusliche Aufgaben, Bauarbeiten oder Fahrzeugreparaturen erledigen. Alle 14 Kinder gaben an, keine Wahl gehabt und hauptsächlich aus Angst oder Hunger gehandelt zu haben.
Ein Zwölfjähriger gab an, er sei von Mitgliedern der Bande Grand Ravine gezwungen worden, als Informant zu arbeiten: "Sie hätten mich umgebracht, wenn ich es nicht getan hätte." Ein anderer Bub im Grundschulalter sagte, er sei von einer Bande gezwungen worden, eine Waffe zu tragen, um Straftaten zu begehen. Er sagte zu Amnesty International: "Was ich getan habe, habe ich nicht mit ganzem Herzen getan. Ich habe nicht verstanden, was ich da tue. Ich hatte eine Waffe, aber nicht, um andere zu verletzen, sondern um für mich selbst zu sorgen." Einige Kinder wurden geschlagen und bedroht, wenn sie sich weigerten, Befehlen Folge zu leisten.
Die Vereinten Nationen und zivilgesellschaftliche Gruppen haben die Tötung von Kindern und Erwachsenen dokumentiert, die von Bürgerwehren, die Teil der sogenannten Bwa-Kale-Bewegung sind, verdächtigt werden, mit Banden in Verbindung zu stehen. Einige Kinder gaben an, ihre Verbindung zu Banden geheim gehalten zu haben, aus Angst vor Vergeltung durch Bewohner*innen. Ein Junge erzählte: "Wenn jemand mit dem Finger auf mich zeigt, könnte mich das das Leben kosten."
Die Regierung hält zahlreiche Kinder, darunter viele, die von Banden rekrutiert und eingesetzt worden sein sollen, zusammen mit erwachsenen Häftlingen in einer überfüllten Einrichtung fest, die ursprünglich für die Rehabilitierung von Jungen gedacht war. Zum Zeitpunkt der Recherche war noch keiner der Jungen verurteilt worden, da das Jugendgericht von Port-au-Prince seine Arbeit 2019 eingestellt hat.
Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch Banden in Haiti ist nach internationalem und nationalem Recht verboten; neben vielen anderen Menschenrechtsverstößen werden die Kinder dadurch Menschenhandel ausgesetzt.