Amnesty International interviewte einen weiteren Mann, der an einem anderen Tag im August in Sham Shui Po festgenommen worden war. Der ihn festnehmende Beamte forderte ihn mehrmals auf, zur Überprüfung sein Mobiltelefon zu entsperren. Als er sich weigerte, drohte der Beamte dem Festgenommenen mit Elektroschocks an den Genitalien. Der Mann berichtete Amnesty International, dass er Angst gehabt habe, der Beamte könne seine Drohung wahr machen. „Die Zeiten sind so verrückt, dass ich alles für möglich halte.“
Während er in einem Gemeinschaftsraum der Polizeiwache festgehalten wurde, erlebte der Mann mit, wie Polizeibeamt*innen einen Jungen zwangen, einen Laserstift 20 Sekunden auf sein eigenes Auge zu richten. „Offenbar hatte er mit dem Laserstift die Polizeiwache angeleuchtet“, erinnert sich der Mann. „Sie sagten: ‚Wenn du den Stift so gern auf uns richtest, warum richtest du ihn nicht auch mal auf dich selbst?“
Muster unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt
Amnesty International dokumentierte außerdem ein Muster an unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt durch Polizeibeamt*innen während der Festnahme von Protestierenden. Dabei war die Bereitschaftspolizei und eine Spezialeinheit namens Special Tactical Squad (STS), bekannt als „Raptors“, für die größte Gewalt verantwortlich. Fast alle Interviewpartner*innen berichteten, dass sie bei ihrer Festnahme mit Schlagstöcken und Fäusten geschlagen worden seien, selbst wenn sie keinen Widerstand leisteten.
Eine junge Frau, die im Juli bei einer Protestveranstaltung in Sheung Wan festgenommen worden war, war eine der vielen Protestierenden, die beschrieb, dass sie von hinten mit einem Schlagstock geschlagen wurde, als sie vor einem Polizeikommando wegrannte. Sie wurde zu Boden geschlagen und die Polizei schlug auch noch auf sie ein, als ihre Hände bereits gefesselt waren.
In ähnlicher Weise beschrieb ein Mann, der bei einer Protestveranstaltung in Tsim Sha Tsui im August festgenommen worden war, wie er sich zurückzog und dann rannte, als die Polizei in die Versammelten hineinstürmte. Er berichtete Amnesty International, dass die sogenannten Raptors ihn einholten und von hinten mit Schlagstöcken auf Hals und Schultern schlugen. Er gab an: „Ich wurde sofort zu Boden geschlagen. Drei von ihnen stürzten sich auf mich und drückten mein Gesicht mit Gewalt auf den Boden. Eine Sekunde danach traten sie mich ins Gesicht ... Dieselben drei STS drückten mich weiter zu Boden. Ich konnte nicht mehr richtig atmen und die linke Seite meines Brustkorbs tat mir sehr weh ... Sie sagten: ‚Halt einfach den Mund, hör auf so einen Krach zu machen‘.“
Laut seiner Krankenakte lag er daraufhin zwei Tage stationär im Krankenhaus und wurde wegen einer gebrochenen Rippe und anderen Verletzungen behandelt. In mehr als 85 Prozent der von Amnesty International untersuchten Fälle (18 von 21) wurde die festgenommene Person infolge der Schläge in ein Krankenhaus gebracht, drei Betroffene mussten mindestens fünf Tage stationär behandelt werden.
Verstoß gegen internationale Menschenrechtsnormen
„Immer wieder waren die Polizeibeamt*innen vor oder während der Festnahme gewalttätig, selbst wenn die Person bereits gefesselt war. Die Gewaltanwendung war also eindeutig unverhältnismäßig und stellt einen Verstoß gegen internationale Menschenrechtsnormen dar“, sagte Nicholas Bequelin.
Amnesty International dokumentierte zudem zahlreiche willkürliche und rechtswidrige Festnahmen sowie viele Fälle, bei denen Polizist*innen den Inhaftierten den Zugang zu Rechtsbeiständen und medizinischer Versorgung verweigerten oder verzögerten. Der zeitnahe Zugang zu Rechtsbeiständen, Familienangehörigen und medizinischem Personal ist für Menschen in Gewahrsam ein wichtiger Schutzmechanismus gegen Folter und andere Misshandlungen.
Diese Erkenntnisse decken sich mit den Berichten von UN-Expert*innen angesichts der systematischen Angriffe und Festnahmen von Protestierenden durch die Hongkonger Polizei.