Auch wenn die Notstandsgesetzgebung, durch die alle neuen Asylanträge im ganzen Land für einen Monat ausgesetzt wurden, nun außer Kraft getreten ist, haben Schutzsuchende weiterhin keinen Zugang zu Asyl: Denn die griechischen Asylbehörden haben seit dem 13. März aufgrund von COVID-19 ihre Arbeit ausgesetzt.
Amnesty bestätigt 2 Tote
Muhammad Gulzari, ein 43-jähriger Mann aus Pakistan, wurde bei dem Versuch, den Grenzübergang Pazarkule/Kastanies zu überqueren, in die Brust geschossen. Am 4. März wurde er in einem türkischen Krankenhaus für tot erklärt. Bei dem Zwischenfall wurden fünf weitere Menschen durch Schüsse verletzt. Ein 22-jähriger Syrer, Muhammad al-Arab, starb am 2. März in derselben Gegend. Seine Tötung wurde von Forensic Architecture dokumentiert.
Eine Frau wird vermisst und ist vermutlich tot. Sie und ihr Mann Ahmed (Name geändert, Anm.) wurden von ihren sechs Kindern getrennt, als sie versuchten, den Fluss Evros/Meriç südlich von Edirne zu überqueren, um nach Griechenland zu gelangen. Ahmed erzählte Amnesty International, dass griechische Soldaten Schüsse auf seine Frau abgefeuert hatten, als sie versuchte, zu ihren Kindern auf der griechischen Seite des Flusses zu gelangen.
Ahmed sagte gegenüber Amnesty International, dass die griechischen Behörden ihn und die Kinder anschließend vier oder fünf Stunden lang festhielten. Sie hätten sich ausziehen müssen, ihre Habseligkeiten seien ihnen abgenommen worden. Danach wurden sie zurück zum Fluss gefahren und in ein Holzboot gesetzt, das sie auf die türkische Seite zurückbrachte. Obwohl Ahmed in beiden Ländern Anwälte eingeschaltet hat, um herauszufinden, was mit seiner Frau passiert ist, bleibt ihr Schicksal ungewiss.
Gewalt gegen Asylsuchende
Asylsuchende und Migrant*innen erzählten Amnesty International, dass die griechischen Grenztruppen sie gezielt abwiesen, anstatt ihre Asylanträge auch nach der Einreise auf griechisches Territorium anzunehmen. Dies verstößt gegen internationale Menschenrechtsverpflichtungen. Augenzeug*innen berichteten außerdem, dass sie von den Grenzschutzbeamt*innen mit Knüppeln geschlagen, an Orten im Grenzgebiet während Stunden bis zu mehreren Tagen festgehalten und in Gruppen in Booten über den Fluss Evros/Meriç in die Türkei zurückgeschickt wurden.
Geflüchtete berichteten Amnesty International zudem, dass Grenztruppen auch ihr Geld – in einigen Fällen Tausende von Dollar, die einzigen Ersparnisse – mitnahmen, mit dem sie gehofft hatten, in Europa ein neues Leben zu beginnen.
Die Gewalt der griechischen Beamt*innen beschränkte sich nicht auf die Grenzgebiete. Ein Mann aus Deir ez-Zor, Syrien berichtete Amnesty International über seine Erfahrungen bei der Einreise nach Griechenland am 4. März: „Ich überquerte den Fluss und ging vier Tage und vier Nächte durch Griechenland, bevor ich gefasst wurde. Sie fuhren mich zu einem Ort, an dem sie mich geschlagen und mir mein Telefon und mein Geld, 2000 Lira [ca. 275 Euro], abgenommen haben; das war alles, was ich habe. Sie brachten mich über den Fluss zurück in die Türkei und ließen mich dort ohne Mantel und Schuhe zurück.“
Willkürliche Inhaftierungen und Aussetzung des Asylrechts
Als Reaktion auf das Vorgehen der Türkei verstärkte Griechenland auch seine Patrouillen auf dem Meer: 52 zusätzliche Schiffe wurden eingesetzt, um die Ankunft von Menschen auf den Inseln zu verhindern. Zudem wurden zusätzliche Ressourcen von Frontex, der EU-Grenzschutzbehörde, mobilisiert.
Parallel dazu wurden durch die Notstandsgesetzgebung alle neuen Asylanträge im ganzen Land für einen Monat ausgesetzt – ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht und gegen EU-Recht. Zwar ist diese Regelung am 2. April außer Kraft getreten, doch Schutzsuchenden wird weiterhin der Zugang zum Asyl verwehrt, da die griechischen Asylbehörden seit dem 13. März aufgrund von COVID-19 ihre Arbeit ausgesetzt haben.
Auf den Inseln der Ägäis wurden alle, die nach dem 1. März 2020 ankamen, willkürlich in Hafenanlagen und anderen Gebieten festgehalten, ohne Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Allein auf Lesbos wurden rund 500 Menschen – darunter über 200 Kinder – inhaftiert. Alle auf den Inseln inhaftierten Menschen wurden schließlich am 20. März in größere Haftzentren auf dem griechischen Festland verlegt, von wo ihnen die Rückschiebung in die Türkei oder in „Herkunfts- oder Transitländer“ droht.
Über den Bericht
Der Bericht dokumentiert die Ereignisse an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei zwischen dem 27. Februar und dem 27. März sowie die Situation auf den griechischen Inseln zwischen dem 27. Februar und dem 23. März. Der Bericht wurde abgeschlossen, nachdem Griechenland am 22. März als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie eine vollständige Abriegelung angekündigt hatte. Um der Gefahr eines Ausbruchs zu begegnen, führten die griechischen Behörden am 17. März Beschränkungen für die Bewegungsfreiheit von Menschen ein, die in Flüchtlingslagern leben. Amnesty International sprach für diesen Bericht mit 21 Männern und 13 Frauen, die an der griechisch-türkischen Grenze Sicherheit suchten, sowie mit Menschenrechtsverteidiger*innen, humanitäre Organisationen auf beiden Seiten der Grenze sowie mit Einheimischen im Grenzgebiet. Wir baten um ein Treffen mit dem Gouverneur der Provinz Edirne, erhielten jedoch keine Rückmeldung.