Menschen demonstrieren gemeinsam gegen die anhaltende Gewalt und Diskriminierung gegenüber der alawitischen Minderheit. © AFP via Getty Images / DELIL SOULEIMAN
Menschen demonstrieren gemeinsam gegen die anhaltende Gewalt und Diskriminierung gegenüber der alawitischen Minderheit. © AFP via Getty Images / DELIL SOULEIMAN
presse

Syrien: Behörden müssen Entführungen von alawitischen Frauen und Mädchen untersuchen

28. Juli 2025

Die syrische Regierung muss ihre Bemühungen zur Verhinderung geschlechtsspezifischer Gewalt dringend verstärken. Amnesty International ist alarmiert über die zahlreichen Fälle von entführten und verschleppten alawitischen Frauen und Mädchen und fordert, dass diese sofort gründlich und unparteiisch untersucht und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Seit Februar 2025 sind bei der Menschenrechtsorganisation glaubhafte Berichte über die Entführung von mindestens 36 alawitischen Frauen und Mädchen eingegangen. Die Betroffenen sind zwischen drei und 40 Jahre alt und wurden in den Gouvernements Latakia, Tartus, Homs und Hama verschleppt – über die Täter ist nichts bekannt. Von den 36 gemeldeten Fällen untersuchte Amnesty International acht genauer. Dabei handelt es sich um fünf alawitische Frauen und drei Mädchen unter 18 Jahren, die am helllichten Tag verschleppt worden waren. 

In jedem der untersuchten Fälle bis auf einen haben es Polizei und Sicherheitsbehörden versäumt, das Schicksal und den Verbleib der Betroffenen wirksam zu untersuchen. Am 22. Juli gab der von Präsident al-Sharaa zur Untersuchung von Tötungen an der syrischen Küste eingerichtete Untersuchungsausschuss an, ihm seien keine Entführungen von Frauen und Mädchen gemeldet worden.

Die Behörden in Syrien haben wiederholt versprochen, ein Syrien für alle Syrer*innen aufzubauen. Aber sie unternehmen nichts, um Entführungen und Verschleppungen von Frauen und Mädchen zu stoppen, körperliche Misshandlungen, Zwangsheirat und wahrscheinlich Menschenhandel zu verhindern, Vorwürfe wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen. Die alawitische Gemeinschaft, die bereits von früheren Massakern gezeichnet ist, ist durch diese Entführungswelle tief erschüttert. Frauen und Mädchen haben Angst, das Haus zu verlassen oder allein spazieren zu gehen.

Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International

In jedem der acht von Amnesty International genauer untersuchten Fälle hatten die Angehörigen der Betroffenen der Polizei oder den Sicherheitsbehörden die Entführungen gemeldet. In vier Fällen wurden neue Beweise, die von den Familien vorgelegt worden waren, zurückgewiesen oder nicht anerkannt. Die Familien erhielten keine Informationen über den Stand der Ermittlungen. In zwei Fällen machten Polizei und Sicherheitskräfte die Familie der Frau oder des Mädchens für die Entführung verantwortlich.

In einem Fall schickte der Entführer den Angehörigen ein Bild ihrer verschwundenen Verwandten. Auf ihrem Körper waren Spuren von Schlägen zu sehen. In zwei Fällen verlangte der Entführer oder ein Mittelsmann von den Familien ein Lösegeld in Höhe von 10.000 bis 14.000 US-Dollar. Nur eine der beiden Familien war in der Lage zu bezahlen – trotzdem wurde die Frau nicht freigelassen. In mindestens drei Fällen wurde die entführte Person, darunter auch eine Minderjährige, wahrscheinlich von ihrem Entführer zur Heirat gezwungen. Viele der von Amnesty International zur aktuellen Situation Befragten berichteten, dass vor allem Frauen und Mädchen – insbesondere aus der alawitischen Gemeinschaft, aber auch andere – die in den betroffenen Gouvernements leben, Angst haben und äußerst vorsichtig sind, wenn sie ihre Häuser verlassen, um zur Schule, zur Universität oder zur Arbeit zu gehen.

Eine Aktivistin, die vor kurzem die syrische Küstenregion besuchte, sagte: „Alle Frauen sind in höchster Alarmbereitschaft. Wir können nicht alleine ein Taxi nehmen, alleine spazieren gehen oder sonst irgendetwas tun, ohne Angst zu haben. Obwohl ich keine Alawitin bin und meine Angehörigen anfangs den Berichten von Entführungen misstraut haben, baten sie mich doch, nirgendwo allein hinzugehen und besonders vorsichtig zu sein.“

Wir fordern die syrischen Behörden auf, schnell und transparent zu handeln, um vermisste Frauen und Mädchen ausfindig zu machen und die Täter vor Gericht zu stellen. Außerdem müssen sie den betroffenen Familien umgehend gesicherte Informationen sowie gender-sensible Unterstützung zukommen lassen.

Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International

Amnesty International befragte enge Angehörige von acht Frauen und Mädchen, die zwischen Februar 2025 und Juni 2025 entführt worden waren. In vier Fällen wurden die Familien von den Entführern über syrische oder ausländische Telefonnummern, u. a. aus dem Irak, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder der Türkei, kontaktiert. Die Entführer forderten Lösegeld oder bedrohten die Angehörigen, sollten sie nach den Betroffenen suchen. Nur zwei der acht entführten Personen konnten bisher zu ihren Familien zurückkehren. Amnesty International ist nicht bekannt, dass es Festnahmen, Anklagen oder Verfahren gegen die Verantwortlichen der acht Entführungen gegeben hat. 

Amnesty International erhielt außerdem von zwei Aktivist*innen, zwei Journalist*innen sowie von der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Syrian Feminist Lobby Berichte über 28 weitere Entführungen. In diesen Fällen wurden 14 Mädchen und Frauen wieder freigelassen. Das Schicksal und der Verbleib der weiteren Personen sind unbekannt. Die Menschenrechtsorganisation glich die erhaltenen Berichte mit anderen Quellen ab, u. a. Telefongespräche, Sprachnachrichten und Screenshots von Chatverläufen zwischen Entführern, den betroffenen Frauen und Mädchen oder ihren Familien. Außerdem untersuchte Amnesty International Videomaterial, das die Angehörigen ins Internet gestellt hatten, um die Behörden zum Eingreifen zu bewegen und die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten. Auch Forderungen oder Drohungen von Entführern an die Angehörigen wurden gesichtet.

Am 27. Juni erklärte die UN-Untersuchungskommission für Syrien, dass sie die Entführung von mindestens sechs alawitischen Frauen durch „nicht identifizierte Personen“ dokumentiert habe und „glaubwürdige Berichte über weitere Entführungen eingegangen sind“. Die Kommission fügte hinzu, dass die Behörden „in manchen dieser Fälle“ Ermittlungen eingeleitet hätten. Bereits im Mai hatte Amnesty International bei einem Treffen mit dem Innenminister in Damaskus die Entführungen und Verschleppungen von alawitischen Frauen und Mädchen angesprochen. Der Minister erklärte, er habe die zuständigen Behörden angewiesen, die Angelegenheit zu untersuchen. Am 13. Juli schrieb Amnesty International an den Minister, um vorläufige Untersuchungsergebnisse zu teilen und Informationen über die behördlichen Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen zu erbitten. Außerdem fragte die Menschenrechtsorganisation nach dem Stand der Ermittlungen und nach den bisher unternommenen Schritten, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Antwort steht noch aus.

Frauen und Mädchen verschwinden am helllichten Tag

In sechs Fällen erhielten die Familienangehörigen Anrufe oder Sprachnachrichten von den Entführern (alle männlich) oder den entführten Frauen und Mädchen. In diesen Anrufen bzw. Sprachnachrichten wurde entweder Lösegeld gefordert oder ein Nachweis darüber angeboten, dass die Entführte am Leben sei; manche enthielten knappe Zusicherungen seitens des Entführers oder der Betroffenen, dass sie bei guter Gesundheit seien. Ein Familienmitglied berichtete: „Sie war in die Stadt gegangen. Ihre Familie erwartete sie am frühen Nachmittag zurück, da um diese Zeit das letzte Taxi in ihr Dorf fährt. Sie hatte der Familie per SMS mitgeteilt, dass sie angekommen sei, doch einige Stunden später kam sie nicht wieder zurück. Stattdessen erhielt die Familie einen Anruf von einer ausländischen Nummer, in dem ihnen gesagt wurde: ‚Wartet nicht auf ihre Rückkehr. Das wollten wir euch mitteilen. Sucht nicht nach ihr‘.“ 

Einige Wochen später erhielt die Familie ein Lebenszeichen zusammen mit einer Lösegeldforderung. Die Familie zahlte das Lösegeld, doch die Frau wurde nicht freigelassen. In einem anderen Fall berichtete eine Angehörige, dass ein verwandtes Mädchen bei anderen Familienmitgliedern war, sich kurz aus deren Blickfeld entfernte und nicht mehr zurückkam. Nach ein paar Tagen erhielt die Familie einen Anruf des Entführers, in dem dieser einen Nachweis darüber erbrachte, dass das Mädchen am Leben war, und ein hohes Lösegeld forderte.

Geschlechtsspezifische Gewalt und ihre Folgen

Während manche Familien nach wie vor nicht wissen, was mit ihren verschleppten Verwandten geschehen ist, haben in zwei Fällen die entführten Frauen Kontakt mit ihrer Familie aufgenommen und die Scheidung von ihren Männern gefordert. Diese Frauen gaben an, ihren Entführer entweder geheiratet zu haben oder bald zu heiraten. Sie deuteten an, dass es sich dabei um Zwangsverheiratung handelte bzw. sie gezwungen worden seien, um eine Scheidung zu bitten. Ein Familienmitglied sagte: „Drei Tage nach ihrem Verschwinden erhielt die Familie Sprachnachrichten von einer ausländischen Nummer. Sie waren von ihr. Sie sagte: „Mir geht es gut... Macht euch keine Sorgen um mich.... Er hat mir nicht wehgetan, aber er hat mich geheiratet. Er hat mir gesagt, dass ich nicht zurückgehen kann...“

In einem anderen Fall wurde ein minderjähriges Mädchen entführt, um Lösegeld zu erpressen. Die Familie wurde später von der Polizei darüber informiert, dass das Mädchen verheiratet worden sei. Amnesty International hat den Fall unabhängig überprüft und bestätigt, dass die Heirat ohne die Zustimmung der Eltern und wahrscheinlich auch ohne richterliche Genehmigung stattgefunden hat, was nach syrischem Recht illegal ist. Amnesty International liegt ein Foto vor, auf dem ein minderjähriges Mädchen zu sehen ist, das für eine Lösegeldforderung entführt worden war und Spuren von Schlägen aufweist, die ihr vermeintlich von dem Entführer zugefügt worden waren. In einem anderen Fall sichtete Amnesty International ein Video, in dem ein Familienmitglied angab, dass seiner entführten weiblichen Verwandten von ihrem Entführer, der sie und ihren Sohn verschleppt hatte, die Haare geschoren wurden, weil sie sich geweigert hatte, ihn zu heiraten.

Zwangsverheiratung verstößt gegen die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und setzt sie dem Risiko weiterer Misshandlung aus. Zum Beispiel drohen ihnen dadurch weitere Formen sexualisierter Gewalt und körperlicher Misshandlung. Die oben beschriebene Entführung und Verschleppung von Frauen und Mädchen kann außerdem möglicherweise dem völkerrechtlich verbotenen Menschenhandel gleichkommen, wenn die Betroffenen beispielsweise zum Zweck der Ausbeutung verschleppt und festgehalten wurden. Die Behörden müssen alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um diese Menschenrechtsverstöße zu verhindern und die Täter zu bestrafen, und sie müssen den Opfern und Überlebenden umfassende Unterstützung zukommen lassen. 

Darüber hinaus ist das Recht auf Freiheit und Sicherheit einer Person durch das Völkerrecht geschützt. Staaten haben die Pflicht, dieses Recht zu gewährleisten, u. a. indem sie dafür sorgen, dass es nicht durch Dritte verletzt werden kann. Das Völkerrecht verbietet zudem Folter und andere Misshandlung und verpflichtet die Staaten, Maßnahmen zu ergreifen, um Folter zu verhindern und bei Foltervorwürfen angemessene Untersuchungen durchzuführen. 

Keine wirksame behördliche Untersuchung

In allen acht von Amnesty untersuchten Fällen zeigten die Familien das Verschwinden ihrer Angehörigen offiziell bei den Behörden an – entweder bei der örtlichen Polizei oder den nationalen Polizeibehörden. Sie meldeten dies entweder in der Gegend, in der die Entführung stattfand, oder an ihrem Wohnort. In sieben von acht Fällen hielten die Behörden die Familien jedoch nicht über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden. Ein Familienmitglied einer Frau, die im Februar 2025 entführt wurde, setzte sich beispielsweise mehrfach mit den Sicherheitskräften in Verbindung und teilte ihnen sogar die Telefonnummer des mutmaßlichen Entführers mit, nachdem dieser die Familie kontaktiert hatte. Dennoch hatte die Familie im Juli 2025 immer noch keinerlei Informationen oder Neuigkeiten von den Behörden erhalten.

In drei Fällen gaben Angehörige von Entführten an, dass Sicherheitskräfte ihnen entweder die Schuld an der Entführung gaben, indem sie sie z. B. der Nachlässigkeit beschuldigten, weil sie ihren Angehörigen erlaubt hatten, tagsüber Besorgungen zu machen; oder dass sie sie verhöhnten, weil sie die Frau oder das Mädchen nicht beschützen könnten; oder dass sie konkrete Hinweise, die bei der Suche nach der Verschwundenen helfen könnten, mit der Begründung zurückwiesen, sie seien unwichtig oder gefälscht, obwohl sie eindeutig glaubwürdig waren. 

Ein Familienmitglied einer Frau, die aus ihrem Haus entführt wurde, berichtete von den verzweifelten Bemühungen der Familie, die Frau zu finden: „Die Familie ging zur Polizei und erstattete Anzeige, wurde dort aber furchtbar behandelt... Die Polizei beschuldigte die Familie, die Entführung nicht verhindert zu haben... Die Familie bereute es, zur Polizei gegangen zu sein. Wochenlang ging die Familie immer wieder [zur Polizei] zurück, aber es änderte sich nichts. Ihnen wurde nur immer wieder gesagt, dass nichts passiert sei und man keine Ahnung habe, wer sie entführt hat.“

Familienmitglieder, die Lösegeldforderungen erhalten hatten, darunter auch die Angehörigen einer Minderjährigen, berichteten Amnesty International, dass die Polizei über jeden Anruf, jede Nummer und jeden Austausch im Zusammenhang mit Lösegeldforderungen informiert worden war. Sie gaben der Polizei sogar die Namen von Personen, an die die Zahlungen überwiesen werden sollten, doch die Strafverfolgungsbehörden scheinen diesen Spuren nicht nachgegangen zu sein. In den Fällen, in denen die Frauen und Mädchen freigelassen wurden, hörten die Familienmitglieder oft auf, darüber zu sprechen. Ihren Angaben zufolge taten sie dies vor allem aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens der Täter, die nicht festgenommen worden waren, und seitens der Behörden, die die Familien zum Schweigen aufgefordert und die Überlebenden angewiesen hätten, die Entführungen zu leugnen.

Die Behörden haben eine rechtliche und moralische Verantwortung, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und zu bestrafen. Alle Frauen in Syrien haben das Recht, ihr Leben frei von Angst vor Missbrauch, Diskriminierung und Verfolgung zu verbringen. Es müssen umgehend gründliche Untersuchungen erfolgen, die von unabhängigen Ermittler*innen mit uneingeschränktem Zugang zu den erforderlichen Ressourcen geleitet werden. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden und die Betroffenen sollten Wiedergutmachung erhalten. Alles andere ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International