Friedliche Proteste werden als Verbrechen angesehen
"Das hat dazu geführt, dass friedliche Proteste von staatlichen Stellen als Verbrechen angesehen werden“, sagte Oleg Kozlovsky weiter. „Die willkürlichen Einschränkungen, Auflagen und harten Sanktionen, denen russische Demonstrant*innen ausgesetzt sind, können in ihrer Absurdität nur als kafkaesk bezeichnet werden. Die russischen Behörden haben 16 Jahre und 13 parlamentarische Basteleien an der Gesetzgebung gebraucht, um das Recht auf friedliche Versammlung völlig auszuhöhlen.“
Gesetzesänderungen zur Niederschlagung regierungskritischer Proteste
Neun der 13 größeren Gesetzesänderungen, mit denen das Recht auf friedliche Versammlung in Russland massiv eingeschränkt wurde, wurden seit 2014 vorgenommen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Niederschlagung regierungskritischer Proteste und der damit einhergehenden Einschränkung von Menschenrechten, die eigentlich sowohl durch internationale Menschenrechtsnormen als auch in der russischen Verfassung garantiert sind.
Spontane Versammlungen mit Gewalt aufgelöst
Nach den föderalen Vorschriften dürfen in der Nähe von Gerichtsgebäuden, Gefängnissen, Präsidentenresidenzen und seit Dezember 2020 auch in der Nähe von Rettungswachen keine Versammlungen stattfinden. Regionale Gesetzgebungen machen diese Einschränkungen sogar noch drastischer: In der Oblast Kirow beispielsweise verbieten örtliche Vorschriften alle Versammlungen in der Nähe von Kultur-, Bildungs-, Medizin- oder Unterhaltungseinrichtungen, Einkaufszentren, Spielplätzen und sogar Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel – also praktisch überall in den Städten. Spontane, d.h. nicht geplante Versammlungen sind generell verboten und werden, wenn sie dennoch stattfinden, unter massiver Gewaltanwendung aufgelöst.
Seit Dezember 2020 ist es ausländischen Staatsangehörigen, ausländischen und internationalen Organisationen sowie russischen Staatsbürger*innen und Nichtregierungsorganisationen, die von den Behörden als „ausländische Agenten“ eingestuft werden, untersagt, öffentliche Versammlungen zu finanzieren. Darüber hinaus müssen Versammlungen mit mehr als 500 Teilnehmenden über ein bestimmtes Bankkonto organisiert und finanziert werden, andernfalls werden sie illegal.
Massiv gestiegene Strafen und strafrechtliche Verfolgung
Seit 2011 hat sich die Zahl der spezifischen, gesetzlich definierten Verstöße gegen das Versammlungsgesetz von drei auf 17 erhöht. Die im Falle solcher Verstöße drohenden Geldstrafen sind von 2.000 Rubel (knapp 25 Euro) im Jahr 2012 auf 300.000 Rubel (knapp 3.500 Euro) im Jahr 2021 angestiegen, und für zwölf dieser 17 Verstöße wurde eine Verwaltungshaft von bis zu 30 Tagen als mögliche Strafe eingeführt. Die massivste Einzelmaßnahme war die Einführung einer bis zu fünfjährigen Haftstrafe für wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsgesetz im Rahmen des berüchtigten „Dadin-Paragrafen“ 212.1 des Strafgesetzbuchs im Jahr 2014.
Exzessive Gewaltanwendung
In dem Amnesty-Bericht wird auch die übermäßige Gewaltanwendung durch Polizeikräfte beschrieben, die nachweislich Kampfsporttechniken gegen Demonstrierende einsetzten, sie erbarmungslos mit Schlagstöcken niederprügelten und – seit 2021 – auch mit Elektroschockwaffen betäubten. Trotz der öffentlichen Empörung über Fälle übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei, wie der Fall von Margarita Yudina im Januar 2021 - einer friedlichen Demonstrantin, die auf der Intensivstation landete, nachdem sie von einem Polizisten in den Bauch getreten worden war - ergreifen die Behörden entweder keine Maßnahmen, um mutmaßliche Täter*innen zu ermitteln und vor Gericht zu stellen, oder sie lassen solche Ermittlungen im Sande verlaufen, was das Klima der Straflosigkeit noch verstärkt. „Dies ist ein klares Signal an die Polizei, dass jegliche Exzesse toleriert werden, dass Gewalt gefördert wird und volle Straffreiheit garantiert ist", so Oleg Kozlovsky.
Menschenrecht auf friedlichen Protest
Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, die Gesetzgebung und Handlungsanweisungen für die Praxis zu reformieren, um sie in Einklang mit der Verfassung des Landes und den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu bringen.