Die untersuchten Angriffe machen zwar nur einen Bruchteil der israelischen Luftschläge aus, sie sind jedoch bezeichnend für ein großflächiges Muster wiederholter direkter Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte bzw. vorsätzlich unterschiedsloser Angriffe. Sie wurden außerdem so durchgeführt, dass sie eine sehr hohe Zahl an Getöteten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung zur Folge hatten. Zehntausende israelische Luftangriffe in Gaza führten zu einer beispiellos hohen Zahl an Todesopfern, darunter mehrheitlich Zivilpersonen. Knapp 60 Prozent der 40.717 Todesopfer, die vom Gesundheitsministerium in Gaza bis zum 7. Oktober 2024 identifiziert wurden, waren Kinder, Frauen und ältere Menschen.
Für den vorliegenden Bericht wurden zudem Aussagen von hochrangigen Angehörigen der israelischen Regierung und des Militärs sowie von offiziellen Institutionen ausgewertet. Die Organisation sichtete 102 Stellungnahmen, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. Juni 2024 von israelischen Regierungs- und Militärangehörigen und anderen Personen abgegeben wurden und in denen Palästinenser*innen entmenschlicht wurden bzw. zu Völkermord oder anderen Verbrechen gegen sie aufgerufen oder diese gerechtfertigt wurden. Darunter befanden sich 22 Aussagen, die von hochrangigen Personen getätigt wurden, die Befehlsverantwortung über die Offensive hatten. Ihre Aussagen riefen allem Anschein nach zum Völkermord auf bzw. rechtfertigten entsprechende Handlungen, was ein unmittelbarer Nachweis für genozidale Absicht ist.
Einzeln betrachtet stellen einige der von Amnesty International untersuchten Handlungen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen dar. Betrachtet man jedoch das Gesamtbild des Militäreinsatzes und die kumulativen Folgen der israelischen Politik und Handlungsweisen, so ist eine genozidale Absicht die einzig plausible Schlussfolgerung.
Laut internationaler Rechtsprechung ist der Straftatbestand des Völkermords auch dann erfüllt, wenn der Versuch, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, nicht erfolgreich war. Vielmehr reicht es aus, dass völkerrechtswidrige Handlungen in der Absicht begangen wurden, diese Personengruppe auszulöschen.
Amnesty International hat ihre Erkenntnisse den israelischen Behörden mehrfach mitgeteilt, jedoch bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts keine substanzielle Antwort erhalten.
Vorsätzliche Vernichtung der Palästinenser*innen in Gaza
Amnesty International belegte die vorsätzliche Absicht Israels, Palästinenser*innen im Gazastreifen zu vernichten, durch eine ganzheitliche Betrachtung der israelischen Handlungsmuster im Gazastreifen und die Auswertung entmenschlichender und genozidaler Aussagen durch teils hochrangige Angehörige von Regierung und Militär. Die Organisation betrachtete zudem den Kontext des von Israel geschaffenen Apartheidsystems sowie die unmenschliche Blockade des Gazastreifens und die seit 57 Jahren anhaltende rechtswidrige militärische Besetzung palästinensischer Gebiete.
Amnesty International untersuchte die Angaben Israels, dass es auf rechtmäßige Weise militärische Angriffe auf die Hamas und andere bewaffnete Gruppen im Gazastreifen verübe, und dass die resultierende beispiellose Zerstörung und Verweigerung humanitärer Hilfe dem rechtswidrigen Verhalten der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen zuzuschreiben seien, die ihre Kämpfer*innen unter der Zivilbevölkerung verstecken und Hilfsgüter umleiten würden. Nach eingehender Prüfung kam die Organisation zu dem Ergebnis, dass diese Behauptungen nicht glaubwürdig sind. Die Anwesenheit von Hamas-Kämpfer*innen nahe oder in einem dicht besiedelten Gebiet entbindet Israel nicht von seiner Verpflichtung, alle realisierbaren Vorkehrungen zu treffen, um Zivilpersonen zu verschonen und wahllose oder unverhältnismäßige Angriffe zu vermeiden.
Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass Israel dem wiederholt nicht nachgekommen ist und mehrfach völkerrechtliche Verbrechen begangen hat, die durch Handlungen der Hamas nicht zu rechtfertigen sind. Die Organisation fand zudem keine Nachweise dafür, dass die angebliche Umleitung von Hilfsgütern durch die Hamas die extreme und vorsätzliche Einschränkung der lebenswichtigen humanitären Hilfe durch Israel erklären könnte.
Die Analyse von Amnesty International befasste sich auch mit alternativen Argumentationen, zum Beispiel dass Israel rücksichtslos agiere oder schlicht die Hamas zerstören wolle und dabei die Vernichtung der Palästinenser*innen billigend in Kauf nehme, was statt einer Völkermord-Absicht eine kaltherzige Missachtung von Menschenleben aufzeige.
Unabhängig, davon ob Israel die Vernichtung der Palästinenser*innen als notwendig für die Auslöschung der Hamas oder als hinzunehmendes Nebenprodukt für das Erreichen dieses Ziels ansieht: eine solche Betrachtung der Palästinenser*innen als entbehrlich und unwürdig ist an sich schon ein Nachweis für eine genozidale Absicht.
Lebensbedingungen, die auf Vernichtung abzielen
Der Bericht dokumentiert, wie Israel für die Palästinenser*innen im Gazastreifen vorsätzlich Lebensbedingungen geschaffen hat, die längerfristig auf ihre Vernichtung abzielen. Diese Bedingungen wurden durch drei simultane Vorgehensweisen herbeigeführt, die sich wiederholt gegenseitig verstärkten:
Beschädigung und Zerstörung der lebenserhaltenden Infrastruktur und anderer für das Überleben der Zivilbevölkerung unverzichtbarer Objekte; wiederholte Verkündung pauschaler, willkürlicher und verwirrender „Evakuierungs“-Befehle für weite Teile des Landes, wodurch fast die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens in unsichere und nicht für die Versorgung von Menschen ausgestattete Gebiete vertrieben wurde; Verweigerung und Behinderung der Bereitstellung lebenswichtiger Dienstleistungen, humanitärer Hilfe und anderer lebensnotwendiger Güter – dies betrifft Lieferungen in den Gazastreifen sowie innerhalb des Gazastreifens.
Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 verhängte Israel eine komplette Blockade über den Gazastreifen und stellte Strom-, Wasser- und Treibstofflieferungen ab. In den neun Monaten, die für diesen Bericht untersucht wurden, hat Israel eine rechtswidrige Blockade aufrechterhalten, den Zugang zu Energiequellen streng kontrolliert, den wirksamen humanitären Zugang innerhalb des Gazastreifens nicht sichergestellt und die Einfuhr und Lieferung lebensnotwendiger Güter und humanitärer Hilfsmittel behindert, insbesondere in die Gebiete nördlich des Wadi Gaza.
Damit verschärften sie eine bereits bestehende humanitäre Krise. In Kombination mit der großflächigen Beschädigung von Häusern, Krankenhäusern, Wasserversorgungs- und Sanitäreinrichtungen sowie landwirtschaftlichen Flächen im Gazastreifen und der massenhaften Vertreibung führte dies dazu, dass der Hunger katastrophale Ausmaße annahm und sich Krankheiten alarmierend schnell verbreiteten. Kleine Kinder und schwangere bzw. stillende Frauen waren hiervon besonders stark betroffen mit langfristigen gesundheitlichen Folgen.
Die israelische Regierung hatte immer wieder die Möglichkeit, die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern, weigert sich jedoch seit über einem Jahr, Maßnahmen zu ergreifen, die eindeutig in seiner Macht stehen. So hätten beispielsweise ausreichende Zugänge zum Gazastreifen geöffnet werden oder die strengen Beschränkungen für Lieferungen in das Gebiet bzw. für Hilfslieferungen innerhalb des Gazastreifens aufgehoben werden können. Währenddessen verschlechtert sich die Lage dort immer weiter.
Durch seine wiederholten „Evakuierungs“-Befehle hat Israel fast 1,9 Millionen Palästinenser*innen – 90 % der Bevölkerung des Gazastreifens – in stets schrumpfende und zunehmend unsichere Landesteile vertrieben, in denen unmenschliche Bedingungen herrschen. Manche Menschen sind bereits zehn Mal vertrieben worden. Diese wiederholten Vertreibungswellen haben dazu geführt, dass zahlreiche Menschen arbeitslos und zutiefst traumatisiert sind. Etwa 70 % der Bewohner*innen des Gazastreifens sind Geflüchtete oder Nachkommen von Geflüchteten, deren Städte und Dörfer während der Nakba 1948 von Israel ethnisch gesäubert wurden.
Trotz der zunehmend menschenfeindlichen Lebensbedingungen weigerten sich die israelischen Behörden, Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die die vertriebene Zivilbevölkerung geschützt und die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sichergestellt hätten. Dies zeigt, dass sie vorsätzlich handelten. Die zahllosen Warnungen humanitärerer und UN-Organisationen im gesamten Zeitraum zeigen auch, dass Israel die zerstörerischen Konsequenzen seiner Handlungen und Unterlassungen kennen musste.
Die Behörden erlaubten den Vertriebenen nicht, in ihre Häuser im nördlichen Gazastreifen zurückzukehren oder vorübergehend in andere Teile der besetzten palästinensischen Gebiete oder Israels umzusiedeln, und verweigern damit weiterhin vielen Palästinenser*innen ihr völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Rückkehr in die Gebiete, aus denen sie 1948 vertrieben worden waren. Sie taten dies in dem Wissen, dass es für Palästinenser*innen im Gazastreifen keinen sicheren Zufluchtsort gibt.
Verantwortung für Völkermord
„Dass die internationale Gemeinschaft seit über einem Jahr Israel nicht drängt, seine Gräueltaten im Gazastreifen zu beenden, indem sie zuerst die Forderung nach einem Waffenstillstand verzögerte und dann die Waffenlieferungen fortsetzte, ist und bleibt ein Schandfleck auf unserem kollektiven Gewissen“, sagte Shoura Zehetner-Hashemi.