Erste Untersuchung auf beiden Seiten der Front
Das Recherche-Team von Amnesty International war von 1. bis 14. August in Libyen und besuchte Orte auf beiden Seiten der Front in Tripolis, Tajoura, Ain Zara, Qasr Bin Ghashir und Tarhouna, an denen Angriffe stattgefunden haben. Die Expert*innen der Menschenrechtsorganisation interviewten 156 Anwohner*innen, darunter Überlebende, Zeug*innen und Familienangehörige von Opfern, sowie örtliche Behörden, medizinisches Personal und Mitglieder der Milizen.
Ergänzend führte das Digital Verification Corps und weitere Expert*innen von Amnesty International eine Online-Open-Source-Untersuchung der Angriffe durch. Dabei wurden mittels Foto- und Videoüberprüfung digitale Nachweise für das Geschehen ermittelt, beispielsweise durch die Verifizierung eingesetzter Waffen und Munition. Keine der beiden Konfliktparteien haben auf die Fragen von Amnesty International zu ihren Angriffen reagiert.
Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer
Seit Beginn der Offensive vor sechs Monaten wurden laut UNO mehr als 100 Zivilist*innen getötet oder verletzt – darunter auch Dutzende inhaftierte Geflüchtete und Migrant*innen. 100.000 Menschen wurden vertrieben. Luftangriffe, Artilleriefeuer und Granateneinschläge haben zivile Wohngebäude und Infrastruktur beschädigt oder zerstört. Dazu zählen mehrere Feldlazarette, eine Schule und ein Internierungslager für Migrant*innen.
Einige der von Amnesty International dokumentierten Angriffe waren entweder wahllos oder unverhältnismäßig – ein Verstoß gegen fundamentale Prinzipen des humanitären Völkerrechts und ein mögliches Kriegsverbrechen. In anderen Fällen gefährdete die Anwesenheit von Kämpfern in der Nähe ziviler Wohnhäuser oder medizinischer Einrichtungen Zivilist*innen. Unter denjenigen, die getötet oder verletzt wurden, sind Kinder, die auf der Straße spielten, Trauergäste einer Beerdigung oder Menschen, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen.
„Was für ein Krieg ist das, bei dem Zivilpersonen, Familien in ihren Häusern getötet werden? Was können wir tun? Möge Gott uns beistehen“, klagte eine Frau gegenüber Amnesty International. Ihr 56-jähriger Ehemann und Vater ihrer sechs Kinder war bei einem Raketeneinschlag in seinem eigenen Schlafzimmer getötet worden, als er sich nach einem Fußballspiel ausruhte. Der Einschlag geschah während eines wahllosen Raketenangriffs der LNA auf ein Wohngebiet in dem Vorort Abu Salim im Südwesten von Tripolis am 16. April 2019. Eine Salve von sechs Grad-Raketen, die für ihre Ungenauigkeit bekannt sind, traf mehrere Wohnblöcke, tötete acht Zivilist*innen und verletzte mindestens vier weitere. Die Überlebenden sind schwer traumatisiert.
Auch bei Luftangriffen der GNA auf Qasr Bin Ghashir und Tarhouna wurden zivile Wohnhäuser und Einrichtungen getroffen. Dabei setzten die GNA-Truppen ungelenkte FAB-500ShL Fallschirmbomben ein, die mit einem Explosionsradius von über 800 Metern für den Einsatz in Stadtgebieten völlig ungeeignet sind.