Ein Standbild aus einem Video, das im November 2024 in den Sozialen Medien kursierte, zeigt die Zerstörung einer Moschee und umliegender Gebäude in Dhayra im Südlibanon mittels manuell gelegter Sprengsätze. © privat
Ein Standbild aus einem Video, das im November 2024 in den Sozialen Medien kursierte, zeigt die Zerstörung einer Moschee und umliegender Gebäude in Dhayra im Südlibanon mittels manuell gelegter Sprengsätze. © privat
presse

Libanon: Gezielte Zerstörung ziviler Objekte durch israelisches Militär muss als Kriegsverbrechen untersucht werden

26. August 2025

Zusammenfassung

  • Einsatz von Sprengstoff und Bulldozern zur Zerstörung von Gebäuden und Wohnhäusern
  • Mehr als 10.000 Gebäude schwer beschädigt oder zerstört, selbst nach dem Waffenstillstandsabkommen im November 2024
  • „Israelische Truppen hinterließen in der Region absichtlich eine Spur der Verwüstung“ – Erika Guevara Rosas

Das israelische Militär hat im südlichen Libanon großflächig und gezielt zivile Objekte und landwirtschaftliche Flächen zerstört. Amnesty International fordert in einem neuen Bericht, diese Angriffe als Kriegsverbrechen zu untersuchen. Der Bericht mit dem Titel "Nowhere To Return: Israel’s Extensive Destruction of Southern Lebanon" dokumentiert, wie die israelischen Streitkräfte manuell ausgelegte Sprengsätze und Bulldozer einsetzten, um in 24 Gemeinden zivile Objekte wie Wohnhäuser, Moscheen, Friedhöfe, Straßen, Parks und Fußballplätze zu zerstören.

Der Bericht analysiert den Zeitraum ab Beginn der israelischen Bodeninvasion im Libanon (1. Oktober 2024) bis zum 26. Jänner 2025 und kommt zu dem Schluss, dass in dieser Zeit mehr als 10.000 Objekte schwer beschädigt oder zerstört wurden. Ein großer Teil dieser Verwüstung fand nach dem vereinbarten Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah am 27. November 2024 statt.

Die Zerstörungen wurden von den israelischen Streitkräften vorgenommen, nachdem sie bereits die Kontrolle über die jeweiligen Gebiete erlangt hatten – also nicht im Rahmen von Kampfhandlungen. In einem solchen Kontext verbietet das humanitäre Völkerrecht die Zerstörung von zivilen Einrichtungen, es sei denn, es besteht eine zwingende militärische Notwendigkeit. Die Untersuchung von Amnesty International ergab, dass das israelische Militär in vielen Fällen zivile Objekte zerstörte, ohne dass dafür eine ersichtliche militärische Notwendigkeit bestand, was folglich gegen das humanitäre Völkerrecht verstieß.

„Das israelische Militär zerstörte im südlichen Libanon Wohnhäuser und andere zivile Objekte sowie landwirtschaftliche Flächen, wodurch ganze Landstriche unbewohnbar und unzählige Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden“, so Erika Guevara Rosas, Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International.

Das von uns analysierte Beweismaterial weist eindeutig darauf hin, dass israelische Truppen in der Region absichtlich eine Spur der Verwüstung hinterließen. Sie legen damit eine abscheuliche Geringschätzung für die Menschen an den Tag, deren Heimat sie dem Erdboden gleichgemacht haben. Wo immer diese zerstörerischen Handlungen vorsätzlich oder rücksichtslos begangen wurden, müssen sie als Kriegsverbrechen untersucht werden.

Erika Guevara Rosas, Senior Director für Research, Advocacy, Policy und Kampagnen bei Amnesty International
Die Karte veranschaulicht den Prozentsatz der schwer beschädigten bzw. zerstörten Gebäude in den libanesischen Verwaltungsbezirken entlang der israelischen Grenze, dokumentiert vom 26. September 2024 bis zum 30. Januar 2025.  © Amnesty International
Die Karte veranschaulicht den Prozentsatz der schwer beschädigten bzw. zerstörten Gebäude in den libanesischen Verwaltungsbezirken entlang der israelischen Grenze, dokumentiert vom 26. September 2024 bis zum 30. Januar 2025. © Amnesty International

Stellungnahmen des israelischen Militärs bestätigen Zerstörung ziviler Objekte

Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International stützte sich bei der Untersuchung der Schäden und Quantifizierung der schwer beschädigten bzw. zerstörten Gebäude auf eine Fülle von Beweisen – darunter 77 verifizierte Videos und Fotos sowie Satellitenbilder. In den Videos ist u. a. zu sehen, wie israelische Streitkräfte Sprengsätze in Wohnhäusern legen, Straßen und Fußballplätze aufbaggern und Parks und religiöse Stätten dem Erdboden gleichmachen. In einigen Fällen filmten sich Soldat*innen dabei, wie sie die Zerstörung mit Gesang und Jubel feiern.

Um eine Zeitleiste zu erstellen und eine Kontextanalyse vorzunehmen, prüfte das Crisis Evidence Lab zudem Stellungnahmen des israelischen Militärs und der Hisbollah auf ihren jeweiligen offiziellen Kanälen und analysierte Nachrichtenberichte sowie Informationen anderer Organisationen. Amnesty International sprach darüber hinaus mit elf Bewohner*innen von Ortschaften an der südlibanesischen Grenze.

Das israelische Militär gab an, dass zivile Objekte in manchen Fällen zerstört wurden, um zukünftige Angriffe zu verhindern, und dass einige dieser Gebäude in der Vergangenheit von Hisbollah-Kämpfer*innen genutzt worden seien, als Waffenlager fungierten oder sich über Tunneln befanden. Nach Ansicht von Amnesty International erfüllt die großflächige Zerstörung ziviler Objekte mit dem Ziel, eine gegnerische Partei an zukünftigen Angriffen zu hindern, nicht das Kriterium einer zwingenden militärischen Notwendigkeit nach dem humanitären Völkerrecht. Die vorherige Nutzung eines zivilen Gebäudes durch eine Konfliktpartei macht es nicht automatisch zu einem militärischen Ziel.

Amnesty International wandte sich am 27. Juni 2025 an die israelischen Behörden, um Fragen zu der Verwüstung zu stellen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts lag noch keine Antwort vor.

Großflächige verwüstung entlang der Grenze zu Israel

Als das israelische Militär am 1. Oktober 2024 seine Bodeninvasion im Libanon begann, hieß es, man würde „auf der Grundlage präziser Informationen lokal begrenzte, eingeschränkte und gezielte Angriffe auf Ziele und Infrastruktur der terroristischen Hisbollah“ vornehmen. Die Recherchen von Amnesty International zeigen hingegen großflächige Verwüstung entlang der 120 Kilometer langen Grenze zu Israel auf.

Karte mit stark beschädigten bzw. zerstörten Gebäuden in Rot (zwischen Ende September 2024 und Ende Januar 2025). Gelb schraffiert die Gebiete, in die israelische Bodentruppen bis Ende Januar 2025 vorgerückt sind. © Amnesty International
Karte mit stark beschädigten bzw. zerstörten Gebäuden in Rot (zwischen Ende September 2024 und Ende Januar 2025). Gelb schraffiert die Gebiete, in die israelische Bodentruppen bis Ende Januar 2025 vorgerückt sind. © Amnesty International

Die Satellitenbilder zeigen, dass die Kommunen Yarin, Dhayra und Boustane im Distrikt Tyros am stärksten betroffen waren: Dort wurden im untersuchten Zeitraum mehr als 70 Prozent der Gebäude zerstört. In sieben weiteren Kommunen wurden mehr als 50 Prozent der Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. 

Amnesty International ist nicht in der Lage zu beurteilen, ob jedes einzelne der mehr als 10.000 Gebäude rechtswidrig beschädigt oder zerstört wurde. Allerdings hat die Organisation in fünf Kommunen eine detaillierte Analyse der von den israelischen Streitkräften angerichteten Schäden vorgenommen: Kfar Kila, Maroun el Ras, Odeisseh, Aita Ash-Shaab und Dhayra.

Kfar Kila

Satellitenaufnahmen zeigen, dass in Kfar Kila zwischen dem 26. September 2024 und dem 27. Jänner 2025 mehr als 1.300 Objekte und knapp 54 Hektar Obstplantagen schwer beschädigt oder zerstört wurden. Bauten, die weniger als 500 Meter von der Grenze entfernt standen, wurden mehrheitlich schwer beschädigt oder zerstört. 

Am 28. Oktober 2024 veröffentlichte das israelische Militär eine Zusammenstellung von Videos, die in Kfar Kila gefilmt worden waren, darunter auch Videos von Zerstörungen durch manuell gelegte Sprengsätze. Die Soldat*innen in den Aufnahmen verhalten sich entspannt und scheinen das Gebiet unter ihrer Kontrolle zu haben. Am 14. November 2024 folgte ein Video mit Beweisen für mutmaßlich gefundene Tunnel und Waffen, begleitet von einer Infografik, die „die Standorte der terroristischen Infrastruktur der Hisbollah“ zeigte.

Ein Abgleich der Infografik mit Boden- und Satellitenbildern macht deutlich, dass die Zerstörung ziviler Objekte weit über die Gebäude hinausging, die angeblich die Infrastruktur der Hisbollah beherbergten. Die Auswertung von Amnesty International ergab, dass die Gegend spätestens ab dem 28. Oktober 2024 zumindest teilweise unter der Kontrolle des israelischen Militärs stand; dies wurde von Journalist*innen vor Ort bestätigt. Auch nach Inkrafttreten des Waffenstillstands am 27. November 2024 gingen die Zerstörungen weiter.

Eine vom israelischen Militär veröffentlichte Infografik der mutmaßlichen „terroristischen Infrastruktur“ in Kfar Kila © IDF Via Youtube & Google Earth
Eine vom israelischen Militär veröffentlichte Infografik der mutmaßlichen „terroristischen Infrastruktur“ in Kfar Kila © IDF Via Youtube & Google Earth
Satellitenbilder mit den stark beschädigten bzw. zerstörten Gebäuden in rot. © IDF Via Youtube & Google Earth
Satellitenbilder mit den stark beschädigten bzw. zerstörten Gebäuden in rot. © IDF Via Youtube & Google Earth

Amnesty International dokumentierte auch die Zerstörung eines Fußballplatzes Anfang November 2024. Israelische Streitkräfte verwüsteten den Sportplatz mit einem Bagger und hinterließen gleichzeitig auf dem ehemaligen Parkplatz einen mit einer Baggerschaufel gezogenen Davidstern – ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich um unnötige Zerstörung handelte.

Ich kann die massive Zerstörung, die totale Verwüstung nicht in Worte fassen... Ich konnte weder mein Haus noch irgendwelche anderen Häuser finden. Es gab dort nur Schutt, Trümmer und Verwüstung.

Zeinab*, die Kfar Kila Ende 2023 infolge von israelischen Luftangriffen verlassen musste, kehrte im November 2024 zum ersten Mal wieder zurück

Maroun el Ras

Insgesamt wurden zwischen dem 29. September 2024 und dem 30. Jänner 2025 in Maroun el Ras 700 Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Das israelische Militär setzte die Demolierungen in Maroun el Ras bis Ende Jänner 2025 fort, zwei Monate nach Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens.

Odeisseh

Mehr als 580 Objekte wurden in Odeisseh zwischen dem 26. September 2024 und dem 27. Jänner 2025 schwer beschädigt oder zerstört, darunter auch eine Moschee und ein Friedhof. Das israelische Militär setzte die Zerstörungen in Odeisseh bis Mitte Jänner 2025 fort, obwohl es bereits die volle Kontrolle über das Gebiet erlangt hatte.

Zerstörung des Familienhauses von Lubnan Baalbaki sowie mehrerer anderer Häuser in Odeisseh durch manuell gelegte Sprengsätze. © privat
Zerstörung des Familienhauses von Lubnan Baalbaki sowie mehrerer anderer Häuser in Odeisseh durch manuell gelegte Sprengsätze. © privat
Zerstörung des Familienhauses von Lubnan Baalbaki sowie mehrerer anderer Häuser in Odeisseh durch manuell gelegte Sprengsätze. © privat
Zerstörung des Familienhauses von Lubnan Baalbaki sowie mehrerer anderer Häuser in Odeisseh durch manuell gelegte Sprengsätze. © privat

Aita Ash-Shaab

In Aita Ash-Shaab zerstörte das israelische Militär zwischen dem 26. September 2024 und dem 30. Jänner 2025 etwa 1.000 Gebäude, viele davon mit manuell gelegten Sprengsätzen oder Bulldozern.

Zwischen dem 13. und 25. Oktober 2024 wurden offenbar weite Teile der Ortschaft in Schutt und Asche gelegt, darunter auch vier Moscheen. Ein Video, das ein Soldat am 23. Oktober 2024 auf seinem privaten Social-Media-Account veröffentlichte, zeigt, wie Soldat*innen auf Hebräisch „Möge dein Dorf brennen“ singen, während Bagger Gebäude abreißen.

Die israelische Flagge, auf einem Wassertank in Aita Ash-Shaab gehisst. © privat
Die israelische Flagge, auf einem Wassertank in Aita Ash-Shaab gehisst. © privat

Am 29. Oktober 2024 veröffentlichte das israelische Militär eine Karte von Aita Ash Shaab mit „terroristischen Standorten“, die durch rote Punkte gekennzeichnet waren, ohne dass die Bedeutung der einzelnen Punkte näher ausgeführt wurde. Die tatsächliche Verwüstung ging weit über die auf der Karte markierten roten Punkte hinaus. Die Zerstörungen wurden in mehreren Wellen vorgenommen und die letzte Welle erfolgte zwischen dem 14. und 18. Jänner 2025, während der vereinbarten Waffenruhe.

Die Zerstörung ist unbeschreiblich und beispiellos ... Man hat das Gefühl, dass sie keinem anderen Zweck diente, als großen Schaden anzurichten, als ob jemand versucht, Chaos zu stiften ... Wir haben unser gesamtes ziviles Eigentum verloren ... Wohnhäuser, landwirtschaftliche Flächen, Lebensgrundlagen, Geschäfte, Restaurants ... Die öffentlichen Plätze, die Orte in jedem Viertel, an denen sich die Leute vor den Geschäften trafen, der Fußballplatz für die Kinder und Jugendlichen... alles weg.

Hajj Muhammad Srour, Bürgermeister von Aita Ash Shaab

Dhayra

Zwischen dem 4. Oktober 2024 und dem 30. Jänner 2025 wurden in Dhayra 264 Gebäude zerstört, das sind 71 Prozent der kompletten Bausubstanz. Außerdem wurden gut 18 Hektar landwirtschaftlicher Flächen vernichtet. Die israelischen Streitkräfte setzten die Zerstörungen in Dhayra bis Mitte Jänner 2025 fort.

Am 13. Oktober 2024 veröffentlichte ein israelischer Journalist Videoaufnahmen, die zeigen, wie die Ahel-El-Quran-Moschee am Stadtrand mit manuell gelegten Sprengsätzen zerstört wurde. Satellitenbilder bestätigen, dass die Moschee und mehrere umliegende Bauten zwischen dem 11. und 13. Oktober 2024 zerstört wurden.

Standbild aus einem Video in den Sozialen Medien: Israelische Soldat*innen beobachten die Zerstörung weiter Teile von Dhayra im südlichen Libanon durch manuell gelegte Sprengsätze © privat
Standbild aus einem Video in den Sozialen Medien: Israelische Soldat*innen beobachten die Zerstörung weiter Teile von Dhayra im südlichen Libanon durch manuell gelegte Sprengsätze © privat

Israel hat sie in die Luft gejagt. Allesamt. Und sie haben die Explosion gefilmt. Sogar die Häuser ... Sie haben ein Video von sich gemacht, in dem sie von fünf bis eins runterzählten, und bei der Explosion riefen sie: ‚Wow! Juhu!‘. Ich sehe mir dieses Video jeden Tag an. Und jedes Mal sage ich zu dem Mann, der ‚Juhu‘ ruft: ‚Ja, tolle Leistung‘.

Das Adiba Finsh, 66, deren Wohnhaus sowie die Häuser ihrer sechs Söhne zerstört wurden

Forderungen von Amnesty International

„Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung durch das israelische Militär haben viele Menschen aus dem Südlibanon nichts, wohin sie zurückkehren können“, so Erika Guevara Rosas. „Die israelischen Behörden müssen umgehend vollständige und angemessene Wiedergutmachung für alle Personen leisten, die von Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht betroffen sind – das gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für ganze Gemeinschaften. Auch die Familien derjenigen, die durch Israels rechtswidriges Verhalten Schaden erlitten haben, müssen entschädigt werden.“

Die libanesische Regierung sollte unverzüglich alle rechtlichen Möglichkeiten ausloten, einschließlich der Einrichtung eines nationalen Entschädigungsmechanismus und der Forderung nach Wiedergutmachung von den Konfliktparteien. Die Regierung sollte außerdem neu in Erwägung ziehen, dem Internationalen Strafgerichtshof die Zuständigkeit zu übertragen für die Untersuchung und Verfolgung von Verbrechen unter dem Römischen Statut, die auf libanesischem Hoheitsgebiet begangen wurden.

Alle Staaten sollten unverzüglich alle Waffenlieferungen und andere Formen von militärischer Unterstützung an Israel aussetzen, da ein erhebliches Risiko besteht, dass diese Waffen dazu eingesetzt werden könnten, schwere Verstöße gegen das Völkerrecht zu begehen oder zu ermöglichen.