In manchen Fällen kommt die willkürliche Inhaftierung an der Grenze möglicherweise dem Verschwindenlassen gleich. All dies hat nichts mit Grenzschutz zu tun und verstößt auf eklatante Weise gegen das Völkerrecht und EU-Recht“, erklärte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International.
Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus
Am 10. August 2021 verhängte Lettland den Ausnahmezustand in der Grenzregion zu Belarus, nachdem die Zahl der dort ankommenden Menschen nach entsprechenden Anreizen durch die belarussischen Behörden stark angestiegen war.
Dieser Ausnahmezustand bedeutet, dass in vier Grenzregionen das Recht auf einen Asylantrag ausgesetzt ist und ermöglicht es den lettischen Behörden, Menschen nach Belarus abzuschieben. Dies verstößt gegen das EU-Recht, das Völkerrecht und den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (non-refoulement).
Die lettischen Behörden haben den Ausnahmezustand wiederholt verlängert, derzeit gilt er bis November 2022. Dies geschah, obwohl mit der Zeit immer weniger Menschen an die Grenze kamen und die Behörden selbst einräumten, dass die hohe Zahl der versuchten Grenzüberschreitungen darauf zurückging, dass dieselben Personen mehrfach versuchten, über die Grenze nach Lettland zu gelangen.
„Mehr als 150 Mal zurückgeschoben"
Seit Verhängung des Ausnahmezustands haben lettische Grenzschützer*innen in Zusammenarbeit mit inoffiziellen „Einsatzkommandos“, der Armee und der Polizei wiederholt rechtswidrige und gewaltsame Abschiebungen vorgenommen. Im Gegenzug schieben die belarussischen Behörden wiederum systematisch Menschen zurück nach Lettland.
Zaki, ein Iraker, der etwa drei Monate lang an der Grenze festsaß, sagte Amnesty International, dass er mehr als 150 Mal zurückgeschoben wurde, manchmal bis zu acht Mal pro Tag.
Während der Zeiträume zwischen diesen Pushbacks saßen die Betroffenen an der Grenze fest oder mussten sich in Zelten aufhalten, die von den Behörden in abgelegenen Waldstücken aufgebaut worden sind.
Die lettischen Behörden bestehen darauf, dass die Zelte lediglich für die Bereitstellung „humanitärer Hilfe“ genutzt würden. Die Recherchen von Amnesty International haben jedoch ergeben, dass es sich hierbei um streng bewachte Orte handelt, an denen Geflüchtete und Migrant*innen willkürlich festgehalten werden, bis sie in vielen Fällen rechtswidrig abgeschoben werden.
Wer nicht in Zelten festgehalten wurde, saß in manchen Fällen bei winterlichen Temperaturen von bis zu -20°C im Freien an der Grenze fest.
Sowohl an der Grenze als auch in den Zeltstädten beschlagnahmten die Behörden die Mobiltelefone der Betroffenen, um zu verhindern, dass sie mit der Außenwelt kommunizierten.
Der Umstand, dass Migrant*innen und Geflüchtete an unbekannten Orten in Zelten festgehalten wurden bzw. ohne Hilfe und Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten an der Grenze festsaßen, wo sie keinen sicheren Zufluchtsort hatten und ständig zwischen Lettland und Belarus hin- und hergeschoben wurden, bedeutet, dass sie einer Art der geheimen Haft ausgesetzt waren, die dem Verschwindenlassen gleichkommen könnte.
Amnesty: Ausnahmezustand muss beendet werden
Aufgrund des Ausnahmezustands hatten die Menschen an der Grenze keinen wirksamen Zugang zu Asylverfahren und lettische Beamt*innen nötigten einige von ihnen, einer „freiwilligen“ Rückkehr in ihre Herkunftsländer zuzustimmen, wenn sie die Waldstücke verlassen wollten, in denen sie festgehalten wurden. Andere wurden in Hafteinrichtungen oder Polizeistationen durch Zwang oder Täuschung dazu gebracht, einer freiwilligen Rückkehr zuzustimmen.
In manchen Fällen ignorierte die lettische Vertretung der Internationalen Organisation für Migration Beweise dafür, dass Personen, die im Rahmen einer „freiwilligen“ Rückkehr nach Belarus gebracht wurden, in Wirklichkeit nicht freiwillig eingewilligt hatten.
„Lettland, Litauen und Polen begehen nach wie vor schwere Menschenrechtsverstöße und rechtfertigen dies damit, dass sie einem ‚Hybridangriff‘ durch Belarus ausgesetzt seien. Mittlerweile naht der Winter und es überqueren wieder mehr Menschen die Grenze. Der Ausnahmezustand ermöglicht es den lettischen Behörden weiterhin, Menschen rechtswidrig nach Belarus abzuschieben. Viele weitere Personen sind daher möglicherweise erneut Gewalt, willkürlicher Inhaftierung und anderen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt, ohne dass die Vorgänge ausreichend oder überhaupt durch unabhängige Stellen kontrolliert werden“, so Eve Geddie.