Jemenit*innen untersuchen die Trümmer eines Gebäudes, das bei US-Luftangriffen in der nördlichen Provinz Saada getroffen wurde. © AFP via Getty
Jemenit*innen untersuchen die Trümmer eines Gebäudes, das bei US-Luftangriffen in der nördlichen Provinz Saada getroffen wurde. © AFP via Getty
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Jemen: Luftangriff der USA auf Hafteinrichtung für Migrant*innen muss als Kriegsverbrechen untersucht werden

29. Oktober 2025

Am 28. April 2025 wurden bei einem Luftangriff des US-Militärs auf eine Hafteinrichtung für Migrant*innen in der Provinz Saada im Nordwesten des Jemen zahlreiche afrikanische Migrant*innen verletzt oder getötet. Recherchen von Amnesty International haben nun ergeben, dass es sich dabei um einen wahllosen Angriff handelte. Die US-Behörden müssen ihn daher unverzüglich und transparent als Kriegsverbrechen untersuchen.

Der Luftschlag fand im Rahmen der „Operation Rough Rider“ des US-Militärs statt und führte dazu, dass Dutzende Zivilpersonen – Migrant*innen, die häufig von den De-facto-Behörden der Huthi aufgrund ihres Einwanderungsstatus festgehalten wurden – verletzt oder getötet wurden.

Der Amnesty-Bericht mit dem Titel ‘It is a miracle we survived’: US air strike on civilians held in Sa’ada detention centre basiert auf Gesprächen mit 15 Überlebenden, die alle aus Äthiopien stammten und in der Einrichtung festgehalten wurden. Zudem wurde digitales Material wie Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos ausgewertet. Der Bericht liefert überzeugende Beweise dafür, dass die USA bei diesem Angriff nicht zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterschieden haben, obwohl dies eine Verpflichtung unter dem humanitären Völkerrecht darstellt.

Bei dem Luftschlag wurden Dutzende Migrant*innen getötet, die zum Zeitpunkt des Angriffs in der Einrichtung festgehalten wurden. Überlebende, mit denen Amnesty International gesprochen hat, konnten 16 der Getöteten namentlich identifizieren und deren ungefähres Alter nennen. Es handelte sich bei allen um äthiopische Männer, die zumeist zwischen 20 und 30 Jahre alt waren.

Aus den erschütternden Berichten der Überlebenden geht klar hervor, dass es sich um ein ziviles Gebäude handelte, in dem Menschen eingesperrt waren und das bombardiert wurde, ohne zwischen militärischen Zielen und zivilen Einrichtungen zu unterscheiden. Damit haben die USA auf tödliche Weise gegen eine ihrer grundlegenden Pflichten unter dem humanitären Völkerrecht verstoßen: nämlich alle realisierbaren Vorkehrungen zu treffen, um zu bestätigen, dass es sich bei dem angegriffenen Objekt um ein militärisches Ziel handelt.

Kristine Beckerle, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

"Die Opfer und ihre Familien sollten umfassend entschädigt werden, auch finanziell. Da bei dem Luftangriff Zivilpersonen verletzt und getötet wurden, sollten die US-Behörden diesen Angriff als ein Kriegsverbrechen untersuchen. Wo ausreichende Beweise vorliegen, sollten die zuständigen Behörden all jene strafrechtlich verfolgen, denen eine strafrechtliche Verantwortung vorgeworfen wird, auch jene am oberen Ende der Befehlskette", so Beckerle weiter.

Amnesty International wandte sich am 27. August 2025 offiziell an das US Central Command (CENTCOM) und das US Joint Special Operations Command (JSOC), teilte den Behörden ihre Erkenntnisse mit und bat um Informationen darüber, welches militärische Ziel mit dem Angriff ins Visier genommen werden sollte und welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren. CENTCOM übermittelte am selben Tag eine kurze Nachricht und erklärte, dass es noch dabei sei, „alle Berichte über zivile Schäden“ auszuwerten, und dass sie alle „ernst genommen“ und „eingehend geprüft“ würden.

Amnesty International bat auch die De-facto-Behörden der Huthi um Informationen. Am 11. September 2025 teilte Amnesty den Huthi-Behörden ihre Erkenntnisse mit und bat um Informationen über die Nutzung des Gefängniskomplexes, in dem sich die Hafteinrichtung für Migrant*innen befand, sowie über die Zahl der Menschen, die zum Zeitpunkt des Luftschlags inhaftiert waren, und ihre Haftbedingungen. Amnesty erkundigte sich außerdem danach, welche Maßnahmen die Huthi ergriffen haben, um die Tatsache zu untersuchen, dass Gefängniswärter*innen den Inhaftierten nicht gestatteten, an einem sicheren Ort Zuflucht zu suchen.

Das Huthi-Ministerium für Justiz und Menschenrechte übermittelte am 24. September und 6. Oktober 2025 zwei ausführliche Antworten, die Informationen über die Zahl der in dem Zentrum inhaftierten Migrant*innen enthielten und jegliches Fehlverhalten in Bezug auf die Haftbedingungen zurückwiesen. Enthalten war auch eine Liste der bei dem Luftangriff ums Leben gekommenen Personen.

Tödlicher Angriff auf ein bekanntes ziviles Objekt

Die Recherchen von Amnesty International fanden keine Beweise dafür, dass die Hafteinrichtung für Migrant*innen ein militärisches Ziel war. Die Überlebenden berichteten, dass es sich bei der Einrichtung um einen offenen Raum handelte und sie alle im Gebäude anwesenden Personen sehen konnten – alle seien inhaftierte Migrant*innen gewesen.

Die Einrichtung ist Teil des Saada-Gefängniskomplexes und wird seit Jahren von den Huthi zur Inhaftierung von Migrant*innen genutzt. Ihr ziviler Charakter war weithin bekannt, und humanitäre Organisationen leisteten dort Arbeit.

Einige Jahre zuvor, am 21. Jänner 2022, hatte das von Saudi-Arabien angeführte Militärbündnis einen Luftangriff auf eine andere Hafteinrichtung innerhalb desselben Gefängniskomplexes durchgeführt. Amnesty International hatte auch diesen Angriff untersucht und festgestellt, dass dabei von den USA hergestellte präzisionsgelenkte Munition zum Einsatz kam, die mehr als 90 Inhaftierte tötete und Dutzende verletzte.

Vor diesem Hintergrund hätten die USA wissen müssen, dass es sich bei der Einrichtung um ein ziviles Objekt handelte und dass ein Luftangriff zu einer wesentlichen Zahl von zivilen Toten und Verletzten führen könnte. Angreifende Parteien sind gemäß dem humanitären Völkerrecht verpflichtet, alle realisierbaren Vorkehrungen zu treffen, um zu bestätigen, dass es sich bei dem beabsichtigten Ziel um ein militärisches Ziel handelt. Im Zweifelsfall ist von einem Angriff abzusehen, oder er muss abgebrochen bzw. ausgesetzt werden.

Überlebende schwer verletzt, verstümmelt und traumatisiert

So gut wie alle der 15 Überlebenden, mit denen Amnesty International gesprochen hat, haben eigenen Angaben zufolge geschlafen, als sie zwischen 4 und 4.30 Uhr morgens eine Explosion in der Nähe hörten. Es handelte sich dabei höchstwahrscheinlich um einen US-Luftangriff auf ein anderes Gebäude, das sich ebenfalls auf dem Gelände des Saada-Gefängnisses befand.

Aus Satellitenaufnahmen geht hervor, dass ein Gebäude, das etwa 180 Meter von der Hafteinrichtung für Migrant*innen entfernt lag, am selben Tag getroffen und zerstört wurde. In ihrer Antwort an Amnesty International erklärten die Huthi, dass es sich dabei um ein Gefängnisverwaltungsgebäude gehandelt habe.

Die Überlebenden gaben an, angsterfüllt aufgewacht und zum Tor der Haftanstalt gerannt zu sein. Sie riefen um Hilfe, hämmerten gegen das Tor und baten die Wärter*innen, sie herauszulassen, damit sie sich in Sicherheit bringen könnten. Die Wärter*innen öffneten die Tore nicht und gaben stattdessen Warnschüsse ab. Wenige Minuten später erschütterte ein zweiter US-Luftangriff das Gebäude, in dem die Migrant*innen untergebracht waren.

In ihrer Antwort an Amnesty International gaben die De-facto-Behörden der Huthi an, dass sich zum Zeitpunkt des Luftschlags 117 Menschen aus Afrika in der Einrichtung befunden hatten, von denen 61 getötet und 56 verletzt wurden. Sie machten zudem geltend, dass es „keine nachweisbaren Fälle gab, in denen Gefängniswärter*innen Inhaftierte daran hinderten, aus dem Zielgebiet zu fliehen oder einen sicheren Ort aufzusuchen“, gaben aber keine klare Antwort darauf, ob sie diesen speziellen Vorfall untersucht hatten.

Der Luftangriff verursachte schwere zivile Schäden mit verheerenden und langfristigen Folgen. Von den 15 Überlebenden, mit denen Amnesty International gesprochen hat, erlitten 14 schwere Verletzungen mit lebenslangen Folgen, darunter der Verlust von Gliedmaßen, schwere Nervenschäden sowie Kopf-, Wirbelsäulen- und Brustkorbverletzungen. Zwei der 15 Migrant*innen mussten die Beine amputiert werden, einer Person wurde die Hand amputiert, und ein Mann verlor ein Auge.

Ein 20-jähriger Überlebender, Hagos*, verlor ein Bein und kam erst Tage nach dem Angriff im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein. Er beschrieb seinen Schmerz so:

 

Du wünschst dir nur, du wärst tot... Ich bettle bei Freunden um Geld, um die Behandlung und die Pillen zu bekommen.

Hagos*, ein Überlebender

Ein weiterer Überlebender, Desta*, erlitt eine Kopfverletzung und verlor ein Auge. Er war so traumatisiert, dass er 20 Tage lang nicht sprechen konnte. Er sagte: 

Der Anschlag war wirklich furchtbar, er hat viele Menschen getötet, uns Behinderungen zugefügt, und Schock und Schrecken verbreitet.

Desta*, ein Überlebender

Zehn Überlebende gaben zum Zeitpunkt des Gesprächs – fast zwei Monate nach dem US-Luftangriff – an, dass sie immer noch in irgendeiner Form medizinisch behandelt werden müssen, z. B. durch Folgeoperationen oder medikamentös. Sie sagten, dass sie trotz ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage diese Behandlungen selbst oder mit der Unterstützung ihrer Familien finanzieren mussten, die sich dies ebenfalls nicht leisten konnten.

Dringend für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sorgen

Zusätzlich zu den Pflichten unter dem humanitären Völkerrecht haben die USA in ihren Gesetzen und ihrer Politik wichtige Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte und zur Einhaltung der Vorgaben des humanitären Völkerrechts verankert. In der Richtlinie des US-Verteidigungsministeriums über die Minderung von Schäden an der Zivilbevölkerung (Instruction on Civilian Harm Mitigation and Response) heißt es, dass die Minderung von Schäden an der Zivilbevölkerung nicht auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts beschränkt ist. Vielmehr werden Befehlshaber*innen ermutigt, „zusätzliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die nicht durch das Kriegsrecht vorgeschrieben sind, wenn dies für angemessen erachtet wird“.

Wichtige Systeme, die in jüngsten Jahren eingeführt worden waren, um Schäden an der Zivilbevölkerung bei militärischen Auslandseinsätzen der USA zu minimieren und besser zu bewältigen, sind nun unter der aktuellen Trump-Regierung gefährdet. Amnesty International appelliert an den US-Kongress, dafür zu sorgen, dass die Mechanismen zur Minderung und Bewältigung von Schäden an der Zivilbevölkerung intakt bleiben und ausreichend finanziert werden, um wirksam auf diesen Vorfall und weitere Ereignisse reagieren zu können.

Die USA müssen den Luftangriff auf die Hafteinrichtung für Migrant*innen in Saada umgehend gründlich, unabhängig, unparteiisch und transparent untersuchen und die Ergebnisse veröffentlichen. Die Überlebenden verdienen echte Gerechtigkeit. Sie müssen über einen wirksamen und zugänglichen Mechanismus vollständige, wirkungsvolle und rasche Wiedergutmachung erhalten, u. a. durch Entschädigungen und Garantien der Nichtwiederholung.

Kristine Beckerle, stellvertretende Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

Amnesty International fordert zudem die De-facto-Behörden der Huthi auf, transparent zu untersuchen, warum die inhaftierten Migrant*innen nicht evakuiert und in Sicherheit gebracht wurden. Die Huthi-Behörden sollten die willkürliche Inhaftierung von Migrant*innen allein aufgrund ihres Einwanderungsstatus und ihrer Staatsangehörigkeit beenden, und den Überlebenden des US-Luftangriffs einen befristeten Aufenthaltsstatus gewähren, damit sie genesen und die notwendige medizinische Behandlung erhalten können, ohne eine erneute Inhaftierung befürchten zu müssen.

* Namen der Überlebenden aus Sicherheitsgründen geändert