„Gesundheitsarbeiter*innen können ihren Regierungen bei der Feinabstimmung der Pandemiemaßnahmen wertvolle Unterstützung bieten und für die Sicherheit und das Wohlergehen aller sorgen. Dazu müssen sie aber frei und nicht im Gefängnis sein und dürfen überdies keine Angst haben, ihre Meinung zu äußern.“
Aus verschiedenen Ländern gab es Berichte über Disziplinarmaßnahmen und Entlassungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemkritischer Berufsgruppen, nachdem diese ihre Bedenken kundgetan hatten.
In den Vereinigten Staaten beispielsweise wurde die ausgebildete Pflegehelferin Tainika Somerville entlassen, nachdem sie ein Facebook-Video mit der Forderung nach mehr Schutzausrüstungen veröffentlicht hatte. Tainika Somerville berichtete, dass die Belegschaft ihres Pflegeheims in Illinois nicht über die COVID-19-Fälle unter den Patient*innen informiert gewesen war, sondern erst aus den Medien davon erfahren hatte. Das Pflegeheim hatte bis zum 29. Mai insgesamt 34 Infektionen und 15 durch COVID-19 bedingte Todesfälle gemeldet.
In Russland dokumentierte Amnesty International die Fälle der beiden Ärztinnen Yulia Volkova und Tatyana Reva, die nach einer Beschwerde über den Mangel an Schutzausrüstung mit Repressalien zu kämpfen haben. Yulia Volkova wurde wegen Verbreitung von Falschnachrichten angeklagt, ihr droht eine Strafe von bis zu 1.250 Euro. Tatyana Reva ist mit einem Disziplinarverfahren konfrontiert, das zu ihrer Entlassung führen könnte.
Ungerechte Bezahlung und fehlende Lohnnebenleistungen
Neben unsicheren Arbeitsbedingungen dokumentierte Amnesty International die ungerechte und in einigen Fällen ausgesetzte Bezahlung von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen.
Im Südsudan zum Beispiel erhalten Ärzt*innen im Staatsdienst seit Februar kein Gehalt mehr. Überdies sind Sozialleistungen und Krankenversicherung ausgesetzt.
In Guatemala erhielten mindestens 46 Instandhaltungs- und Reinigungskräfte keinen Lohn für ihre zweieinhalbmonatige Arbeit in einem COVID-19-Krankenhaus.
In einigen Ländern gibt es keinerlei zusätzliche Leistungen für Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufe für ihre Arbeit während der COVID-19-Pandemie. In anderen Staaten werden bestimmte Berufsgruppen von diesen Leistungenausgeschlossen.
Amnesty International fordert die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, COVID-19 als Berufskrankheit anzuerkennen. Auf Grundlage einer derartigen Regelung müssten sie zukünftig sicherstellen, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen im Fall einer Infektion eine Entschädigung und weitere Unterstützungsleistungen erhalten. Außerdem sollten diese Menschen Priorität beim Zugang zu COVID-19-Tests erhalten.
Stigmatisierung und Gewalt
Amnesty International berichtete über mehrere Fälle, bei denen Beschäftigte im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen wegen ihrer Tätigkeit Stigmatisierung und Gewalt erfahren hatten. So wurde eine Krankenschwester in Mexiko auf offener Straße mit wasserverdünntem Chlor besprüht.
Auf den Philippinen schütteten mehrere Angreifer dem Versorgungsarbeiter eines Krankenhauses Bleichmittel ins Gesicht. Derartige Angriffe weisen auf ein von Fehlinformationen und Stigmatisierungen dominiertes Klima hin und belegen abermals, wie wichtig es ist, dass Regierungen genaue und leicht verfügbare Informationen über die Verbreitung von COVID-19 bereitstellen.
In Pakistan verzeichnete Amnesty International seit April mehrere Fälle von Gewalt gegen Gesundheitsarbeiter*innen. Es kam zur Zerstörung von Krankenhauseinrichtungen und zu Angriffen gegen Ärzt*innen, von denen einer sogar von einem Angehörigen der pakistanischen Behörde zur Terrorismusbekämpfung angeschossen wurde.
Pakistanische Kabinettsmitglieder erklärten mehrfach, dass die Krankenhäuser über die notwendigen Ressourcen verfügten, obwohl die Kliniken Berichten zufolge selbst schwer kranke Personen abweisen mussten, weil es an Betten, Beatmungsgeräten und anderen essentiellen Geräten fehlte. Beschäftigte im Gesundheitswesen werden durch derartige Meldungen schnell zur Zielscheibe, da die Bevölkerung ihnen nicht mehr glaubt, wenn sie angeben, keine Kapazitäten mehr zu haben.
Forderungen
„Wir rufen alle von COVID-19 betroffenen Staaten auf, ihre Maßnahmen gegen die Pandemie von unabhängigen Institutionen in transparenten Verfahren überprüfen zu lassen, um auf diese Weise die Menschenrechte und das Leben ihrer Bevölkerung im Falle einer massenhaften Ausbreitung des Virus besser schützen zu können“, sagt Sanhita Ambast.
Diese Überprüfung sollte auch ermitteln, ob die Rechte von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen – einschließlich des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sowie auf freie Meinungsäußerung – in angemessenem Umfang geschützt sind.
Alle Staaten müssen eine adäquate Entschädigung für jene Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen bereitstellen, die sich im Rahmen ihrer Arbeit mit COVID-19 infiziert haben. Zudem sind die Fälle zu untersuchen, bei denen Beschäftigte nach Kritik an Sicherheits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen von Repressalien betroffen waren. Wer unfair behandelt wurde, muss Zugang zu wirksamen Rechtsschutz erhalten. Wer aufgrund kritischer Äußerungen entlassen wurde, muss wieder eingestellt werden.
Hintergrund
Die Ausdrücke „Gesundheitsarbeiter*innen“ bzw. „Beschäftigte im Gesundheitswesen“ beziehen sich auf alle an der Bereitstellung und Erbringung von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen beteiligten Personen. Das schließt Ärzt*innen, Pflegepersonal, Sozialarbeiter*innen, Krankenwagenfahrer*innen, Reinigungs- und Instandhaltungskräfte u. a. m. ein. Obwohl die obenstehende Zusammenfassung vorrangig die Situation von Gesundheitsarbeiter*innen thematisiert, treten ähnliche Probleme auch bei vielen anderen „systemrelevanten“ Beschäftigten auf, die im Rahmen ihrer Arbeit besonders durch COVID-19 gefährdet sind.
Alle Angaben entsprechen dem Stand vom 6. Juli 2020.