„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde vor 75 Jahren aus der Asche des Zweiten Weltkriegs geschaffen. Ihr Herzstück ist die allgemeingültige Anerkennung der Rechte und Grundfreiheiten aller Menschen. Die Menschenrechte sollten ein Leuchtfeuer sein, damit wir das zunehmend unbeständige und gefährliche Fahrwasser, in dem sich Welt bewegt, sicher durchkreuzen können. Wir dürfen nicht abwarten, bis die Welt erneut in Flammen steht.“
Freipass für Krieg und Unterdrückung
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine löste eine der schwersten humanitären und menschenrechtlichen Notlagen in der jüngeren Geschichte Europas aus. Mit dem russischen Angriffskrieg gingen massenhafte Vertreibung, Kriegsverbrechen, eine globale Energieverknappung und Ernährungsunsicherheit einher.
Der Westen reagierte sofort mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland und schickte militärische sowie humanitäre Hilfe in die Ukraine. Der Internationale Strafgerichtshof leitete Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine ein und die UN-Generalversammlung verurteilte die russische Invasion als Akt der Aggression.
Dieser resolute und begrüßenswerte Ansatz stand jedoch in krassem Gegensatz zu früheren Reaktionen auf schwerwiegende Verstöße durch Russland und anderen Akteur*innen, und auch in scharfem Kontrast zu völlig unzureichenden Maßnahmen angesichts gegenwärtiger Konflikte wie z. B. in Äthiopien und Myanmar.
Für Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland war 2022 eines der tödlichsten Jahre seit Beginn der systematischen Erfassung der Opferzahlen durch die Vereinten Nationen im Jahr 2006: Über 150 Menschen, darunter Dutzende Kinder, wurden von israelischen Streitkräften getötet. Israelische Behörden vertrieben nach wie vor Palästinenser*innen aus ihren Wohnungen und Häusern, und die Regierung entwickelte Pläne zur drastischen Ausweitung illegaler Siedlungen im gesamten Westjordanland. Anstatt ein Ende dieser Menschenrechtsverletzungen zu fordern, gingen viele westliche Regierungen dazu über, diejenigen anzugreifen, die dieses Unrecht anprangern.
EU-Mitgliedstaaten öffneten ihre Grenzen für Menschen, die aufgrund des russischen Angriffskriegs aus der Ukraine flohen, und bewiesen damit, dass die EU als einer der wohlhabendsten Blöcke der Welt durchaus in der Lage ist, eine große Anzahl schutzsuchender Personen aufzunehmen und ihnen Zugang zu Gesundheitsleistungen, Bildungsmöglichkeiten und Wohnraum zu geben. Allerdings hielten viele von ihnen ihre Türen fest verschlossen, wenn es um Menschen ging, die vor Krieg und Unterdrückung aus Syrien, Afghanistan oder Libyen flohen.
Aus Doppelmoral erwachsen weitere Menschenrechtsverstöße
"Die Reaktionen auf den russischen Einmarsch in die Ukraine haben aufgezeigt, was alles möglich ist, wenn nur der nötige politische Wille vorhanden ist. Wir haben gesehen, wie weltweit russische Völkerrechtsverstöße verurteilt, Verbrechen untersucht und Grenzen für Geflüchtete geöffnet wurden. Diese Reaktion muss eine Vorlage dafür sein, wie wir allen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen entgegentreten", Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
Die Doppelmoral des Westens gab Ländern wie China, Ägypten und Saudi-Arabien die nötige Deckung, um Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz auszuweichen. Obwohl in China massive Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigur*innen und andere muslimische Minderheiten begangen wurden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, entkam Peking einer internationalen Verurteilung durch die Generalversammlung, den Sicherheitsrat und den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen.
Einerseits richtete der UN-Menschenrechtsrat das Amt eines Sonderberichterstatters zur Beobachtung der Menschenrechtslage in Russland ein und rief im Nachgang der tödlichen Proteste im Iran einen Untersuchungsmechanismus ins Leben. Andererseits stimmten die Mitglieder des Menschenrechtsrats gegen weitere Untersuchungen oder Debatten zu den von den Vereinten Nationen selbst gesammelten Erkenntnissen über mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im chinesischen Xinjiang. Auch eine Resolution zur anhaltenden Überprüfung der Menschenrechtslage auf den Philippinen scheiterte.