Taliban-Sicherheitskräfte stehen Wache, während eine afghanische Frau auf einem Markt entlanggeht © AFP / Wakil Kohsar
Taliban-Sicherheitskräfte stehen Wache, während eine afghanische Frau auf einem Markt entlanggeht © AFP / Wakil Kohsar
presse

Afghanistan: Vier Jahre seit der Taliban-Machtübernahme - Behörden müssen Rechtsstaatlichkeit wiedereinführen

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurde das bestehende Rechtssystem vollständig abgeschafft und durch eine religiös geprägte Ordnung der Taliban ersetzt. Dieses System ist bestimmt von willkürlichen Urteilen, fehlender Transparenz, öffentlicher Folter und Hinrichtungen.

Amnesty International ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, unverzüglich durch diplomatischen Druck und prinzipienfeste Gespräche mit den Behörden der Taliban aktiv zu werden und die Wiedereinführung eines formellen Rechtssystems sicherzustellen. „Die De-Facto-Behörden der Taliban müssen der willkürlichen und unfairen Rechtsprechung unverzüglich ein Ende setzen, indem sie einen formellen verfassungsrechtlichen Rahmen sowie die Rechtsstaatlichkeit im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Afghanistans wiederherstellen“, erklärt Amnesty International anlässlich des vierten Jahrestages der erneuten Machtübernahme der Taliban.

„Es gibt kein Gesetz, auf das man sich beziehen könnte“  

Bis August 2021 beruhten afghanische Gesetze auf einer schriftlichen Verfassung und wurden von gewählten legislativen Gremien verabschiedet. Gerichtsentscheidungen wurden in der Regel dokumentiert, konnten angefochten werden und unterlagen der öffentlichen Kontrolle.

 

Unter den Taliban werden Gerichtsverfahren üblicherweise von einem einzigen Richter (Qazi) geleitet. Er wird unterstützt von einem religiösen Rechtsexperten (Mufti), der ihn auf der Grundlage seiner persönlichen Auslegung religiöser Texte bei der Verkündung religiöser Urteile (Fatwas) berät. Im Gespräch mit Amnesty International erläutert ein ehemaliger Richter in Afghanistan die großen Unterschiede in den Urteilen, die auf die Verwendung unterschiedlicher Auslegungen islamischen Rechts (Fiqh) und der Rechtswissenschaft zurückzuführen sind. "Ein und dasselbe Verbrechen kann zu zwei völlig verschiedenen Urteilen führen.“ Bei einer Strafanzeige wegen Diebstahls können die Strafen je nach Auslegung von der öffentlichen Auspeitschung bis zu einer kurzen Haft reichen.


Diese fehlende rechtliche Einheitlichkeit hat zu einem unsicheren, unvorhersehbaren und willkürlichen System geführt. Ein ehemaliger Staatsanwalt berichtete, an einigen ländlichen afghanischen Gerichten würden Richter während der Verhandlungen in religiösen Texten blättern, um geeignete Referenzen zu finden, was zu langen Verzögerungen und uneinheitlichen Urteilen führt. Das Fehlen festgeschriebener nationaler Gesetze hat den Menschen, und zwar Bürger*innen wie Jurist*innen, jegliche Klarheit und Sicherheit hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten genommen.

Frauen wurden von ihren Positionen in der justiz entlassen - gERICHTE, die sich für den Schutz von FRauen einsetzen, gibt es nicht mehr  

Vor der Machtübernahme waren Frauen aktiv als Richterinnen, Staatsanwältinnen und Anwältinnen tätig. Mittlerweile sind die meisten von ihnen gezwungen, sich zu verstecken oder ins Exil zu gehen, nachdem sie nach der Machtübernahme der Taliban aus ihren Positionen entlassen wurden. Institutionen, die einst dem Schutz der Rechte der Frauen dienten, wie Familiengerichte, Jugendstrafrechtsabteilungen und Abteilungen für Gewalt gegen Frauen, wurden aufgelöst, sodass Frauen nun fast keinen Zugang mehr zur Justiz oder einem wirksamen Rechtsbehelf haben. Ein ehemaliger Richter sagte dazu: 

In Gerichten der Taliban wird die Stimme einer Frau nicht gehört, nicht, weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil niemand mehr da ist, der sie hören könnte.

Ein ehemaliger Richter

Willkürliche Urteile, fehlende Transparenz und öffentliche Folter 

Eine ehemalige Richterin, die an einem Familiengericht in Kabul tätig war und jetzt im Exil lebt, sagte Folgendes: „Es gibt keine richterliche Unabhängigkeit, keine fairen Gerichtsverfahren und keinen Zugang zu Strafverteidiger*innen. Wir hatten ein auf Regeln basierendes Rechtssystem geschaffen, aber [die Taliban] haben es über Nacht in etwas Beängstigendes und Unverhersehbares verwandelt.“ Unter den Taliban finden Gerichtsverfahren häufig im Geheimen statt. Es gibt keine öffentliche Kontrolle, und rechtliche Entscheidungen werden weder dokumentiert noch erläutert. Menschen werden ohne Haftbefehl festgenommen, ohne Prozess inhaftiert und sind in einigen Fällen einfach „verschwunden“. Ein ehemaliger Staatsanwalt meinte: „Bis August 2021 mussten wir jede Festnahme mit Dokumenten und Ermittlungen begründen, aber jetzt kann jemand einfach wegen seiner Kleidung oder einer Meinungsäußerung mitgenommen werden, und niemand fragt nach dem Grund.“

Urteile, die ohne fairen Prozess oder ordnungsgemäße rechtliche Überprüfung gefällt werden, führen oft zu öffentlichen Bestrafungen wie Auspeitschungen und Hinrichtungen, die auf öffentlichen Plätzen und in Sportstadien vollstreckt werden. Dieses Vorgehen verstößt gegen das Recht auf Würde und Schutz vor Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen. Mehrere Zeug*innen haben gesehen, wie junge Männer in der Öffentlichkeit ausgepeitscht wurden, weil sie Musik gehört hatten, oder Frauen, weil sie nicht vollständig verhüllt waren. Diese Spektakel sind mehr als nur Bestrafungen; sie sind Instrumente der Angst und der Kontrolle. Der ehemalige Staatsanwalt fügte hinzu: 

Wir alle leben in Angst, wir könnten die Nächsten sein.

Ein ehemaliger Staatsanwalt

Unsere Forderungen zum Schutz der afghanischen Bevölkerung

 

Die Taliban müssen ihre drakonischen Verordnungen unverzüglich zurücknehmen, Körperstrafen abschaffen und die Menschenrechte aller im Land achten. Die Taliban müssen außerdem die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit aktiv und wirksam achten, schützen und wahren, unter anderem durch eine Reform des Justizsystems und durch die Gewährleistung, dass Richter*innen, Anwält*innen, Staatsanwält*innen und andere Rechtsexpert*innen ihre Dienste für die afghanische Bevölkerung im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen des Landes erbringen können.

 

Die Taliban müssen ihre drakonischen Verordnungen unverzüglich zurücknehmen, Körperstrafen abschaffen und die Menschenrechte aller im Land achten. Die Taliban müssen außerdem die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit aktiv und wirksam achten, schützen und wahren, unter anderem durch eine Reform des Justizsystems und durch die Gewährleistung, dass Richter*innen, Anwält*innen, Staatsanwält*innen und andere Rechtsexpert*innen ihre Dienste für die afghanische Bevölkerung im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen des Landes erbringen können.

 

Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft auf, unverzüglich aktiv zu werden, durch diplomatischen Druck und eine prinzipienfeste Auseinandersetzung mit den Behörden der Taliban. Die internationale Gemeinschaft muss die Wiedereinführung eines formellen Rechtssystems, den Schutz der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan fordern.

Das Justizsystem der Taliban untergräbt grundlegende Prinzipien der Fairness, Transparenz, Rechenschaftspflicht und Würde. Es basiert nicht auf dem Schutz der Menschenrechte, sondern auf Angst und Kontrolle. Viele Afghan*innen, vor allem Frauen, können keine Gerechtigkeit mehr einfordern. Sie müssen ohne leben.

Samira Hamidi, Campaignerin für die Region Südasien bei Amnesty International