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© BANARAS KHAN / AFP / picturedesk.com

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Pakistan: Regierung muss Schikane und willkürliche Festnahme schutzsuchender Afghan*innen beenden

20. Juni 2023

Zusammenfassung

  • Flucht vor Taliban-Regime – Afghan*innen in Pakistan durch Polizei schikaniert und willkürlich inhaftiert
  • Erhebliche Hürden beim Zugang zu Visa führt zu auswegloser Lage
  • Geflüchtete unter anderem bei Grenzübertritten und Wohnungssuche zu Schmiergeldzahlungen gezwungen
  • UN-Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) muss Registrierung und Prüfung von Anträgen von Afghan*innen, die in Pakistan den Flüchtlingsstatus beantragen, dringend beschleunigen

Die pakistanische Regierung muss dringend damit aufhören, afghanische Geflüchtete und Asylsuchende, von denen viele vor der Verfolgung durch die Taliban fliehen, willkürlich festzunehmen und zu schikanieren, fordert Amnesty International heute anlässlich des Weltflüchtlingstages.

Nachdem die Taliban im August 2021 in Afghanistan die Macht übernommen haben, sind in den letzten Jahren viele Afghan*innen aus Angst vor Verfolgung nach Pakistan geflohen. Dort sind sie immer wieder willkürlicher Inhaftierung, Festnahmen und der Gefahr der Abschiebung ausgesetzt. Angesichts erheblicher Verzögerungen im Registrierungsverfahren sind die die meisten von ihnen nicht im Besitz einer sogenannten „Proof of Registration“-Karte (PoR), dem Ausweisdokument, das afghanische Geflüchtete zum regulären Aufenthalt in Pakistan berechtigt. Viele sind mit regulären, mittlerweile abgelaufenen Visa nach Pakistan eingereist.

Es ist sehr besorgniserregend, dass die Situation afghanischer Geflüchteter in Pakistan nicht die gebührende internationale Aufmerksamkeit erhält. Sie können weder nach Hause zurückkehren noch dauerhaft in Pakistan bleiben und befinden sich in einer unmöglichen und ausweglosen Lage. Durch ihren unklaren Rechtsstatus und die langwierigen Verfahren für Asyl oder die Umsiedlung in ein Drittland sind sie noch stärker gefährdet.

Dinushika Dissanayake, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für Südasien

Amnesty International hat neun telefonische Interviews mit Afghan*innen geführt, unter ihnen sechs, die in den letzten drei Monaten in Pakistan inhaftiert waren. Bereits 2022 hatte Amnesty Interviews mit anderen afghanischen Geflüchteten in Pakistan geführt sowie eine fortlaufende Medienbeobachtung und Prüfung offizieller Dokumente vorgenommen. Afghanische Geflüchtete haben tiefe Besorgnis angesichts der Schikanierung durch die pakistanische Polizei und Staatsbedienstete geäußert.

„In Pakistan ist unser Leben nichts wert“

Hussain,* ein ehemaliger Mitarbeiter des Innenministeriums in Afghanistan, floh 2022 mit seiner Familie nach Pakistan, nachdem er den Taliban in Kabul nur knapp entkommen war. Er wurde kürzlich im Rahmen einer Welle von Festnahmen inhaftiert und sah sich den Schikanen pakistanischer Behörden ausgesetzt.

Im Februar 2023 führte die Polizei eine Razzia in Hussains Haus in Islamabad sowie in den Häusern mehrerer anderer afghanischer Familien in seiner Nachbarschaft durch und durchsuchte sie. Nach seinen Angaben wurde er gegen 22 Uhr in Handschellen auf die Polizeiwache gebracht, wo er zu seinem Einwanderungsstatus, seiner Beschäftigung und seinen sozialen Kontakten befragt wurde. Etwa 20 weitere Afghan*innen wurden ebenfalls festgenommen und auf die Wache gebracht.

„Sie haben uns die Pässe und Brieftaschen abgenommen und uns mehrmals körperlich durchsucht. Selbst die von uns, die gültige Visa besaßen und sich legal im Land aufhielten, wurden inhaftiert“, sagte er. Am nächsten Morgen wurde Hussain nach der Zahlung einer „Geldbuße“ von 30.000 Rupien (etwa 96 Euro) freigelassen. Die Polizei weigerte sich jedoch, ihm in irgendeiner Form den Grund seiner Inhaftierung oder die Zahlung der Geldbuße zu bescheinigen. Fünf weitere inhaftierte Afghan*innen, die von Amnesty International interviewt wurden, berichteten von ähnlichen Vorfällen. Sie alle wurden zur Zahlung von Geldstrafen in der Höhe zwischen 5.000 und 30.000 Rupien (etwa 16 bzw. 96 Euro) gezwungen, ohne jedoch einen schriftlichen Nachweis über die Inhaftierung oder die gezahlte Geldbuße zu erhalten. „In Pakistan ist unser Leben nichts wert“, sagte Hussain.

Bei diesen Fällen handelt es sich nur um einen Bruchteil der vielen Afghan*innen, die auf der Suche nach Asyl in Pakistan eingetroffen sind, um sich dort ein neues Leben aufzubauen oder sich in einen Drittstaat umsiedeln zu lassen. Die Drohungen und Schikanen, denen sie ausgesetzt sind, wurden durch die Verzögerungen bei der Umsiedlung in Drittstaaten und die abgelaufenen Visa noch schlimmer, da sie dadurch keinen sicheren Rechtsstatus mehr haben.

Staaten, die spezielle Umsiedlungsprogramme für von der Verfolgung durch die Taliban bedrohte afghanische Staatsangehörige angeboten haben, darunter die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und Deutschland, stellen aktuell keine Visa innerhalb von Afghanistan aus, weil sie dort keine diplomatischen Vertretungen mehr besitzen. Die Visumsvergabe in Pakistan ist jedoch nach wie vor kompliziert und langwierig und dauert viele Monate. Deutschland hat beispielsweise im Oktober 2022 ein humanitäres Aufnahmeprogramm für von der Verfolgung gefährdete Afghan*innen aufgelegt, über das bis zu 1.000 Afghan*innen pro Monat nach Deutschland kommen sollten. Medienberichten zufolge ist mit Stand Juni 2023 bisher jedoch noch niemand über das Programm nach Deutschland gelangt. Afghan*innen, denen von den deutschen Behörden gesagt wurde, sich nach Pakistan zu begeben, um sich dort ein Visum ausstellen zu lassen, befinden sich noch immer in Pakistan.

Asylsuchende Afghan*innen müssen auch einen langwierigen Prozess durchlaufen, wenn sie versuchen, vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) eine Registrierungsbestätigung zu erhalten. In Verbindung mit den langwierigen Visumsverlängerungen durch die pakistanische Regierung machen es diese Verzögerungen der Polizei leichter, sie zu schikanieren, und anderen Behörden, Geld von ihnen zu erpressen – Praktiken, über die aus ganz Pakistan berichtet wird, unter anderem aus Sindh, Karatschi, Peschawar, Chaman und Quetta.

Die von Amnesty International befragten Afghan*innen gaben an, sich in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung erheblich eingeschränkt zu fühlen, da sie aufgrund ihres unsicheren Rechtsstatus nicht in der Lage seien, sich öffentlich über die Schwierigkeiten zu beschweren, mit denen sie konfrontiert werden. Besonders düster ist die Lage für Frauen und Mädchen, die sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan Diskriminierung ausgesetzt sind.

„Wir müssen Schmiergeld zahlen“

Afghan*innen, die ihren Rechtsstatus nicht nachweisen können, ist es nicht möglich, einer offiziellen Beschäftigung nachzugehen. Sie müssen häufig im Niedriglohnsektor arbeiten, wo sie stark von Ausbeutung gefährdet sind. Ohne PoR-Karte oder Visum ist es außerdem schwierig, eine SIM-Karte zu bekommen oder ein Bankkonto einzurichten. In diesem Fall können Afghan*innen kein Geld von ihren Familien erhalten. Auch Vermieter*innen nutzen den fehlenden Nachweis eines regulären Aufenthaltsstatus aus.

„Wenn man keine Karte hat, kann man keine Wohnung legal mieten, also müssen wir stattdessen einem Makler Schmiergeld zahlen“, sagte Hussain unter Verweis auf die PoR-Karten.

Viele Neuankömmlinge müssen an die afghanisch-pakistanische Grenze reisen und offiziell aus Pakistan ausreisen, um ihr Visum erneuern zu lassen. Dies kann sich als teuer und auch gefährlich erweisen. Zwei der Befragten berichteten, dass Grenzbeamt*innen Bestechungsgelder verlangten, bevor sie ihnen den Grenzübertritt erlaubten, obwohl sie im Besitz eines gültigen Visums waren.

Die pakistanischen Behörden berufen sich häufig auf das Ausländergesetz (Foreigners Act) von 1946, um Afghan*innen im Land zu inhaftieren, auch wenn diese über gültige Dokumente verfügen. Afghan*innen, die sich kürzlich in Haft befanden, gaben an, während des Polizeigewahrsam keinen rechtlichen Schutz erhalten zu haben, obwohl sie Kontakt zu Menschenrechtsgruppen in Pakistan aufgenommen hatten. Darüber hinaus haben Afghan*innen es häufig schwer, Zugang zu Gesundheitsleistungen und zu Bildung für ihre Kinder zu erhalten, da einige Schulen es aufgrund der Unsicherheiten im Zusammenhang mit ihrem Rechtsstatus ablehnen, die Kinder aufzunehmen. Für Frauen und Mädchen ist es in Pakistan aufgrund der geschlechtsspezifischen Diskriminierung besonders schwierig, zur Schule zu gehen.

Bürokratische Hürden

Der UNHCR ist zuständig für die Registrierung asylsuchender Afghan*innen, die Ausstellung von Registrierungsnachweisen und die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft. Der UNHCR hat die pakistanische NGO SHARP (Society for Human Rights and Prisoners' Aid) mit diesem Registrierungsverfahren beauftragt. Die Befragten berichteten Amnesty International jedoch, dass sie im SHARP-Büro lange Wartezeiten in Kauf nehmen mussten, wenn sie einen Termin für ein Gespräch vereinbaren wollten, und dass Anrufe nur schleppend beantwortet wurden, so dass es für neu angekommene Afghan*innen praktisch unmöglich war, schnell ein rechtsgültiges Dokument zu erhalten.

Ahmad,* ein weiterer Asylsuchender, der von Amnesty International befragt wurde, wandte sich im November 2021 an den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge in Pakistan, um einen Registrierungsnachweis zu erhalten. Er wurde im August 2022 aufgefordert, seine biometrischen Daten vorzulegen, ist zehn Monate später allerdings immer noch nicht im Besitz eines offiziellen Registrierungsnachweises.

Für Ahmad, Hussain und andere afghanische Geflüchtete in Pakistan, die für die ehemalige afghanische Regierung tätig waren oder sich zivilgesellschaftlich engagiert haben, ist eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich.

Afghan*innen auf der Suche nach Asyl wurden zweifach bestraft: einmal durch die Taliban und jetzt durch mühsame Registrierungs-, Asyl- und Visumverfahren. Die internationale Gemeinschaft hat jenen, die vor der Verfolgung in Afghanistan fliehen, keinen angemessenen Schutz geboten, ganz im Gegensatz zu den anfänglichen Versprechungen. Diese Afghan*innen brauchen dringend mehr Unterstützung.

Dinushika Dissanayake, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für Südasien

„Amnesty International fordert den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) auf, die Registrierung und Prüfung von Anträgen von Afghan*innen, die in Pakistan den Flüchtlingsstatus beantragen, zu beschleunigen, die pakistanische Regierung aufzufordern, mit der willkürlichen Festnahme und Schikanierung von afghanischen Flüchtlingen aufzuhören und Drittstaaten, die Afghan*innen eine Umsiedlung ins Ausland anbieten, aufzufordern, die Ausstellung von Visa zu beschleunigen.“

Hintergrund

Amnesty hat die Namen aller Befragten geändert, um ihre Identität zu schützen. Am 14. Juni hat Amnesty International die Regierung Pakistans, den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge und SHARP über die Ergebnisse seiner Recherchen informiert, bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jedoch noch keine Reaktion erhalten.

Aufgrund des Verfolgungsrisikos hat der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge nach der Machtübernahme durch die Taliban eine Empfehlung zur Nichtrückkehr für außerhalb ihres Heimatlandes lebende Afghan*innen ausgesprochen. Dem UNHCR zufolge befinden sich mehr als 3,7 Millionen Afghan*innen in Pakistan, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen aus Afghanistan geflohen sind. Nur 1,4 Millionen von ihnen sind offiziell registriert.

Bereits am 15. Dezember 2022 brachte Amnesty International ihre Besorgnis über die Situation der afghanischen Asylsuchenden und Geflüchteten gegenüber der Regierung der Islamischen Republik Pakistan zum Ausdruck.

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