Eine Welle von Festnahmen
Zur der Festnahmewelle kam es nach einer groß angelegten Online-Kampagne, die am 13. September 2024 begann und bei der homofeindliche und transfeindliche Hassreden und diskriminierende Rhetorik gegen LGBTQIA+ Aktivist*innen und -Organisationen auf Hunderten von Social-Media-Seiten verbreitet wurden, darunter auch auf Seiten, die den tunesischen Präsidenten Kais Said unterstützten. Auch die traditionellen Medien verbreiten hetzerische Botschaften populärer Fernseh- und Radiomoderator*innen, die LGBTQIA+ Organisationen angreifen und zu deren Auflösung sowie zur Festnahme von LGBTQIA+ Aktivist*innen aufrufen.
Schwule Männer und trans Menschen werden in Tunesien häufig aufgrund von Geschlechterstereotypen, ihres Verhaltens oder ihres Aussehens festgenommen. Nach Angaben von Anwält*innen, die LGBTQIA+ Personen vertreten, werden häufig digitale Beweise, die nach der Festnahme rechtswidrig von ihren Geräten beschlagnahmt werden, zur Strafverfolgung verwendet. Die meisten Festgenommenen berichten ihren Anwält*innen, dass ihre Telefone von Polizeibeamt*innen beschlagnahmt und illegal durchsucht werden.
Die Kriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen macht LGBTQIA+ Personen anfällig für Gewalt und Missbrauch durch die Polizei, die häufig ihre Angst vor Verhaftung und Strafverfolgung ausnutzt und ihnen mit einem Outing droht, sie erpresst und mitunter auch sexuell missbraucht. In einigen Fällen waren die Festgenommenen Opfer von Phishing und Anstiftungen zu einer Straftat in den Sozialen Medien oder auf Dating Apps durch Sicherheitskräfte geworden. Einige Personen berichteten Damj, dass sie von Sicherheitskräften in eine Falle gelockt wurden, die sich als LGBTQIA+ in Sozialen Medien und bei gleichgeschlechtlichen Dating-Apps ausgaben, um sie zu erpressen, u. a. durch die Androhung, sie zu outen, zu verleumden oder festzunehmen, u. a. wegen „der Anbahnung von Prostitution im Netz“. Anwält*innen berichten auch über eine Zunahme von Polizeirazzien ohne Durchsuchungsbefehl in Wohnungen von LGBTQIA+ Personen im Jahr 2024.
Missbräuchliche Strafverfolgung aus Gründen der „Moral“ und „Unsittlichkeit"
Die Festgenommenen werden auf der Grundlage von Paragraf 230, der gleichgeschlechtliche Beziehungen (für „Sodomie und Lesbianismus“) unter Strafe stellt, und/oder den Paragrafen 226 und 226a des Strafgesetzbuchs, die „Unsittlichkeit“ und Handlungen, die gegen die „öffentliche Moral“ verstoßen, unter Strafe stellen, festgenommen und verfolgt. Paragraf 230 sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren und eine Geldstrafe vor, während die Paragrafen 226 und 226a eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten vorsehen.
„Paragrafen im Strafgesetzbuch, die „öffentliche Unsittlichkeit“ oder Handlungen, die „gegen die guten Sitten oder die öffentliche Moral“ verstoßen, unter Strafe stellen, sind besonders gefährlich, da sie zu weit gefasst und vage sind und nicht dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit entsprechen, was einen großen Auslegungsspielraum und Unregelmäßigkeiten ermöglicht“, sagte Diana Eltahawy.