Amnesty International ruft die oppositionellen Kräfte dazu auf, sich von der Gewalt der Vergangenheit zu lösen. Das Wichtigste ist nun Gerechtigkeit, nicht Vergeltung.
„Alle Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, um dieses tödliche Kapitel in der Geschichte Syriens zu überwinden, müssen auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Rechenschaftspflicht und der Nichtwiederholung beruhen. Gegen alle Menschen, denen Verbrechen nach dem Völkerrecht und andere schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden, muss ermittelt werden, und sie müssen in fairen Gerichtsverfahren und ohne Rückgriff auf die Todesstrafe für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden,“ so Agnès Callamard.
Rechenschaft für die Verbrechen der vergangenen Jahrzehnte
Für die Familien der Zehntausenden von Opfern des Verschwindenlassens in Syrien bedeutet die Freilassung von Gefangenen aus den zahlreichen Gefängnissen des Landes, einschließlich des Militärgefängnisses von Saydnaya, die Aussicht, dass sie endlich die Wahrheit über das Schicksal ihrer vermissten Angehörigen erfahren – in einigen Fällen nach Jahrzehnten.
„Soweit es unter den gegebenen Umständen möglich ist, muss versucht werden, Beweise für vergangene oder gegenwärtige Straftaten zu sammeln und zu sichern, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gefängnisunterlagen und andere Dokumente erhalten bleiben, da diese Informationen wichtiges Beweismaterial über das Schicksal der Verschwundenen enthalten und bei künftigen Strafverfolgungsverfahren und Prozessen wegen völkerrechtlicher Verbrechen verwendet werden könnten,“ sagt Agnès Callamard, und sagt weiter:
„Wir fordern die internationale Gemeinschaft dringend auf, die syrischen Stimmen in den Mittelpunkt dieser Phase des Übergangs zu stellen. Die internationale Gemeinschaft muss die Opfer der Gräueltaten des Assad-Regimes unterstützen, damit sie Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für völkerrechtliche Verbrechen erfahren. Dazu gehören die Einleitung von Verfahren nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit gegen mutmaßliche Täter*innen und die Unterstützung des Internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus für Syrien (IIIM) sowie der UN-Institution über vermisste Personen, die 2023 eingerichtet wurde, um das Schicksal der Verschwundenen zu klären.“
Militärgefängnis Saydnaya: „Human Slaughterhouse“
Der Bericht von Amnesty International “Human Slaughterhouse” (übersetzt in etwa: Menschliches Schlachthaus) aus dem Jahr 2017 deckte auf, wie die syrischen Sicherheitskräfte unter Präsident Bashar al-Assad Tötungen, Folter, Verschwindenlassen, Massenerhängungen im Militärgefängnis Saydnaya, dem berüchtigtsten Haftzentrum Syriens, begingen. Diese Taten waren Teil eines weitverbreiteten und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen ist.
Seit Beginn der Proteste in Syrien im Jahr 2011 hat Amnesty International dokumentiert, wie die syrischen Regierungstruppen mit Unterstützung von Russland wiederholt von bewaffneten Oppositionsgruppen kontrollierte Gebiete angegriffen haben. Dabei kam es zu wahllosen und direkten Angriffen auf zivile Wohnhäuser, Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen. Bei Artillerieeinsätzen und Luftangriffen wurden häufig ungelenkte Waffen wie Fassbomben, Brandbomben und international geächtete Streumunition eingesetzt.