Rafah, Gaza, Ende Juli 2025: Palästinenser tragen Mehlsäcke durch die zerstörte Stadt. © Abed Rahim Khatib / dpa / picturedesk.com
Rafah, Gaza, Ende Juli 2025: Palästinenser tragen Mehlsäcke durch die zerstörte Stadt. © Abed Rahim Khatib / dpa / picturedesk.com
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Neue Zeug*innenberichte belegen das gezielte Aushungern der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen

18. August 2025

Israel verfolgt im besetzten Gazastreifen eine gezielte Hungerkampagne und zerstört damit systematisch die Gesundheit, das Wohlergehen und das soziale Gefüge der palästinensischen Bevölkerung. Zu dieser Schlussfolgerung kommt Amnesty International heute vor dem Hintergrund der Veröffentlichung erschreckender neuer Zeug*innenberichte von hungernden Vertriebenen. Die Schilderungen bestätigen, was Amnesty International bereits wiederholt gesagt hat: Die tödliche Kombination aus Hunger und Krankheit ist keine unglückliche Begleiterscheinung der Militäroperationen Israels. Sie ist das beabsichtigte Ergebnis von Maßnahmen, die Israel in den vergangenen 22 Monaten umgesetzt hat, um den Palästinenser*innen in Gaza gezielt Lebensbedingungen aufzuerlegen, die ihre physische Zerstörung zur Folge haben. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des fortgesetzten Genozids Israels an den Palästinenser*innen im Gazastreifen.

„Vor dem Hintergrund, dass die israelischen Behörden mit einer groß angelegten Bodenoffensive in Gaza-Stadt drohen, sind die von uns gesammelten Zeug*innenberichte weit mehr als nur Leidensberichte – sie sind eine scharfe Anklage gegen ein internationales System, das Israel seit Jahrzehnten die Erlaubnis gewährt, Palästinenser*innen nahezu völlig straffrei zu quälen“, sagt Erika Guevara Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International. 

Diese Rechercheergebnisse untermauern die jüngste Dokumentation von Amnesty International über die Auswirkungen bestimmter israelischer Maßnahmen und Praktiken. Dazu gehört eine 78-tägige vollständige Belagerung zwischen März und Mai und die Ersetzung des seit langem bestehenden humanitären Hilfesystems der Vereinten Nationen durch einen aufgezwungenen, tödlichen und erniedrigenden, nicht neutralen Hilfsmechanismus, der von der von den USA und Israel unterstützten Organisation Gaza Humanitarian Foundation angeführt wird und das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza weiter verschärft hat.

Die verheerenden Folgen der unmenschlichen Politik Israels haben in Gaza zur grausamen Realität einer Hungersnot geführt. Die Blockade Israels muss unverzüglich und bedingungslos aufgehoben werden und ein dauerhafter Waffenstillstand erfolgen. Die Blockade und der anhaltende Völkermord haben katastrophale Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf Kinder, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, ältere Menschen sowie schwangere und stillende Frauen.

Erika Guevara Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International

Erika Guevara Rosas sagte weiter: „Diese katastrophalen Auswirkungen lassen sich nicht einfach durch eine Erhöhung der Zahl der Hilfsgütertransporte oder die Wiederaufnahme der symbolischen, ineffektiven und gefährlichen Luftabwürfe von Hilfsgütern wiedergutmachen. 

Gesundheitseinrichtungen müssen mit den Gütern und Geräten ausgestattet werden, die für ihren Betrieb erforderlich sind. Die Zivilbevölkerung muss von der ständigen Sorge einer Massenvertreibung befreit werden. Vertrauenswürdigen humanitären Organisationen muss gestattet werden, Hilfsgüter und Unterkünfte sicher und ohne willkürliche Einschränkungen bereitzustellen, – und das in einer Weise, bei der die Würde und Menschlichkeit der Zivilbevölkerung respektiert wird. Insbesondere jedoch müssen jegliche Pläne, die Besetzung des Gazastreifens zu verstärken oder die Militäroffensive auszuweiten, gestoppt werden.“

Während Millionen Menschen weltweit weiterhin auf die Straße gehen und die Staats- und Regierungschef*innen der Welt sich in rhetorischen Posen üben, fügt Israel mit seiner gezielten und systematischen Hungerkampagne einer ganzen Bevölkerung nach wie vor unerträgliches Leid zu. Palästinensische Kinder werden dem Hungertod überlassen und ihre Familien vor die unmögliche Wahl gestellt, entweder hilflos zuzuhören, wie ihre ausgemergelten Kinder um Essen betteln, oder auf der verzweifelten Suche nach Hilfe den Tod oder schwere Verletzungen zu riskieren.

Erika Guevara Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International

Recherchen von amnesty international

In den vergangenen Wochen hat Amnesty International mit 19 Palästinenser*innen aus drei Behelfslagern für Binnenvertriebene sowie zwei Personen aus zwei Krankenhäusern in Gaza-Stadt gesprochen, die dort für die medizinische Behandlung unterernährter Kinder zuständig sind.

Bis zum 17. August verzeichnete das Gesundheitsministerium in Gaza den Tod von 110 Kindern aufgrund von Komplikationen im Zusammenhang mit Unterernährung.

In einer am 29. Juli 2025 veröffentlichten Warnung erklärte die Initiative Integrated Food Security Phase Classification (IPC), dass in einem Großteil Gazas die Schwelle zur Hungersnot hinsichtlich des Nahrungsmittelverbrauchs erreicht sei. Sie kam zu dem Schluss, dass das Worst-Case-Szenario einer Hungersnot bereits Realität ist und die Zahl der an Hunger sterbenden Menschen, darunter auch Kinder, weiter steigen wird. Diese alarmierende Tatsache zeigte sich auch in den Daten, die vom Nutrition Cluster des UN-Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) erhoben wurden. Demnach wurden im Juli fast 13.000 Fälle von Kindern erfasst, die wegen akuter Unterernährung in Behandlung waren. Das ist die höchste monatliche Zahl seit Oktober 2023. Unter ihnen waren mindestens 2.800 Fälle (22 Prozent) schwerer akuter Unterernährung.

Die israelischen Behörden tragen zu einer weiteren Verschärfung der unmenschlichen Bedingungen bei, indem sie die Arbeit der meisten großen Hilfs- und UN-Organisationen im Gazastreifen nach wie vor behindern, unter anderem durch die wiederholte Ablehnung ihrer Anträge auf die Einfuhr lebensrettender Hilfsgüter. Diese willkürlichen Beschränkungen gehen einher mit der Einführung neuer Vorschriften für die Registrierung internationaler Nichtregierungsorganisationen, mit deren Umsetzung diesen Organisationen eine Tätigkeit im besetzten palästinensischen Gebiet vollständig untersagt wäre.

Die meisten Familien in Gaza sind am Ende ihrer Kräfte. Sie haben ihre wenigen Ressourcen bereits aufgebraucht und sind vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Durch die Beschränkungen, die den großen Hilfsorganisationen von den israelischen Behörden auferlegt werden und den Drohungen, sie ganz zu verbieten, sind diese Familien effektiv von ihrer einzigen Lebensader abgeschnitten.

Erika Guevara Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International

„Ich fühle mich, als hätte ich als Mutter versagt“: Die Folgen für Schwangere und stillende Mütter

Besonders verheerend sind israelische Maßnahmen wie das Aushungern der Bevölkerung, die mehrfachen Zwangsumsiedlungen und die Beschränkungen des Zugangs zu lebensrettender Hilfe für schwangere und stillende Frauen. Von den 747 schwangeren und stillenden Frauen, die von der Kinderhilfsorganisation Save the Children in der ersten Julihälfte in ihren Gesundheitseinrichtungen untersucht wurden, waren 323 (43 Prozent) unterernährt. 

Von Amnesty International befragte schwangere und stillende Frauen berichteten von der extremen Knappheit an lebensnotwendigen Gütern und den Qualen, als Schwangere oder junge Mutter in der extremen Sommerhitze in einem Zelt leben zu müssen. Außerdem vom täglichen verzweifelten Kampf um Lebensmittel, Babynahrung und sauberes Wasser. Sie erzählten zudem von Schuldgefühlen, weil sie nicht für ihre Kinder sorgen könnten, sowie von der Sorge, wer sich um ihre Kinder kümmern würde, sollten sie getötet werden. Sie sorgen sich auch darüber, welche Auswirkungen die Unterernährung auf das Wachstum und das Wohlbefinden ihrer Kinder haben würde. 

S. (möchte auf eigenen Wunsch anonym bleiben), eine Krankenschwester, die aus Jabalia in das Lager al-Taqwa für Binnenflüchtlinge in Sheikh Radwan in Gaza-Stadt geflohen ist, berichtete von ihrem täglichen Kampf um die Versorgung ihres zweijährigen Sohnes und ihrer sieben Monate alten Tochter. Sie war geflohen, um das Leben ihrer Kinder zu retten. Sie hatte die Wahl zwischen Vertreibung und Tod. Wie sie berichtete, wurde der Hunger Ende April spürbar, und sie war gezwungen, die mageren Essensrationen für ihre Kinder aufzusparen und selbst hungrig zu bleiben. Ende April produzierte sie immer weniger Muttermilch, hatte jedoch keinen Zugang zu Milchpumpen und nur sehr begrenzt Zugang zu Nahrungsergänzungsmitteln für stillende Mütter. Sie erzählte von den körperlichen und emotionalen Schmerzen, die es ihr bereitete, wenn sie stundenlang versuchte, ihr Kind zu stillen, aber „einfach keine Milch kam“. Die tägliche Mahlzeit der Familie besteht, wenn überhaupt, aus einem gemeinsamen Teller Linsen oder Auberginen mit Wasser, wobei S. ihrem kleinen Sohn den Vorrang lässt. Ihre Kinder schlafen „vor lauter Hunger weinend“ ein. Die sieben Monate alte Tochter von S. hat das Gewicht eines vier Monate alten Kindes. Säuglingsnahrung ist in Gaza knapp und mit einem Preis von rund 270 Schekel (etwa 70 Euro) für einen Drei-Tages-Vorrat unerschwinglich. Doch trotz des exorbitanten Preises für Säuglingsnahrung berichten Familien von Engpässen auf dem Markt.

Als die Gemeinschaftsküche im Lager, ihre einzige Nahrungsquelle, die Lebensmittelausgabe drei Tage lang einstellte, konnte S. ihren Kindern nur Wasser geben. Ihr Ehemann wurde verletzt, als er sich in der Nähe des Grenzübergangs Zikim auf die Suche nach Nahrungsmittellieferungen machte. Sie habe ihn daraufhin angefleht, nicht noch einmal aufzubrechen. Ihr vom Hunger geschwächter Sohn würde beim Laufen immer wieder hinfallen.

Ich habe das Gefühl, als Mutter versagt zu haben; dass deine Kinder hungern, gibt dir das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein.

S. (möchte auf eigenen Wunsch anonym bleiben), eine Krankenschwester, die aus Jabalia in das Lager al-Taqwa für Binnenflüchtlinge in Sheikh Radwan in Gaza-Stadt geflohen ist

Doch Nahrung ist nicht das einzige Grundbedürfnis, um das gekämpft werden muss. Windeln sind unerschwinglich, sodass S. gezwungen ist, ihre Kleidung zu zerreißen, um provisorische Windeln herzustellen, die sie aufgrund des Mangels an sauberem Wasser jedoch nicht waschen kann – eine Folge der Zerstörung bzw. schweren Beschädigung der Wasser- und Abwassersysteme in Gaza. In dem Zelt, in dem sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern lebt, gibt es Ratten, Moskitos und Kakerlaken. Ihre kleine Tochter hat sich eine bakterielle Hautkrankheit zugezogen, die sie nicht behandeln kann, weil es weder Antibiotika noch Salben gibt.

Mitarbeitende zweier Hilfsorganisationen, die unter der Bedingung der Anonymität mit Amnesty International gesprochen haben, erzählten, dass die Anträge ihrer Organisationen auf Einfuhr von Antibiotika vom Koordinator für Regierungsaktivitäten in den Gebieten (COGAT) abgelehnt wurden. Dabei handelt es sich um eine Abteilung des israelischen Verteidigungsministeriums, die für die Bearbeitung von Anträgen für die Koordinierung und Genehmigung der Einfuhr von Hilfsgütern zuständig ist.

Schwangere haben Angst um ihr Ungeborenes

Auch schwangere Frauen, die von Amnesty International befragt wurden, gaben an, der Hunger habe bei ihnen psychische Probleme wie Traumata, Schuldgefühle und Scham verursacht. Die 28-jährige Hadeel, eine im vierten Monat schwangere Mutter von zwei Kindern, erzählte von ihrer Angst um ihr Ungeborenes. Sie fühlt sich schuldig, weil sie schwanger ist und sich kaum selbst ernähren kann:

Ich habe Angst vor einer Fehlgeburt, muss aber gleichzeitig an mein Baby denken: Ich gerate in Panik, wenn ich nur daran denke, wie sich mein eigener Hunger auf die Gesundheit des Babys auswirken könnte, auf sein Gewicht, darauf, ob es Geburtsfehler hat ... und selbst wenn das Baby gesund zur Welt kommen sollte, welches Leben es dann erwartet, inmitten von Vertreibung, Bomben, Zelten...

Hadeel, eine im vierten Monat schwangere Mutter von zwei Kindern

Sie hat große Angst davor, ihr Kind unter diesen Bedingungen zur Welt zu bringen, und erinnert sich an die umfassende Mutterschaftsvorsorge, die Vitamine und die medizinischen Tests, die ihr bei ihren vorherigen Schwangerschaften vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) zur Verfügung gestellt wurden und die es jetzt nicht mehr gibt. Hadeels Kinder fragen ständig nach Essen, nach einem Platz, an dem sie spielen können und nach der Schule. Mehrere andere Frauen, die bei dieser und früheren Untersuchungen von Amnesty International befragt wurden, gaben an, sich trotz eines starken Kinderwunsches wegen der Lebensbedingungen und Bombardierungen im Gazastreifen dagegen entschieden zu haben, ein Kind zu bekommen.

Systematische Zerstörung der Lebensmittelproduktion kommt zu Blockade dazu

Interviews von Amnesty International mit palästinensischen Vertriebenen aus drei Flüchtlingslagern in Gaza-Stadt zeigten, dass die Notlage überall in der Bevölkerung gleich ist. Alle hatten seit mindestens einem Monat weder Eier noch Fisch, Fleisch, Tomaten oder Gurken gegessen. Die meisten von ihnen hatten bereits seit Monaten keines dieser Lebensmittel mehr gehabt. Diese weit verbreitete Knappheit an frischen und nahrhaften Lebensmitteln ist sowohl auf die erdrückende Blockade Israels als auch auf die systematische Zerstörung von Nahrungsmittelproduktionsquellen zurückzuführen. So wurden große Teile landwirtschaftlicher Flächen, Geflügel- und andere Viehzuchtbetriebe bei militärischen Operationen durch Beschuss, Bombardierung oder manuell gelegte Sprengsätze zerstört. 

Nach einer Analyse, die vom Satellitenzentrum der Vereinten Nationen (UNOSAT) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) durchgeführt und am 31. Juli veröffentlicht wurde, wurden 86 Prozent der permanenten Anbauflächen in Gaza zerstört oder beschädigt.

Im Mai 2025 dokumentierte Amnesty International die vollständige Zerstörung der Überreste von Khuza'a östlich von Chan Yunis, wo sich einige der fruchtbarsten landwirtschaftlichen Flächen Gazas befanden. Der fehlende Zugang zu Anbauflächen oder deren schwere Beschädigung und Zerstörung haben dazu geführt, dass die Ernteerträge gering sind. Gemüse, sofern überhaupt verfügbar, wird nun zu astronomischen Preisen verkauft. Dadurch sind die Bewohner*innen nahezu vollständig auf die sehr begrenzten Lieferungen angewiesen, die von Israel zugelassen werden. OCHA stellte am 13. August fest, dass die Preisschwankungen vieler Waren weiterhin spekulationsbedingt und nicht auf ihre tatsächliche Verfügbarkeit zurückzuführen sind. Ein Kilogramm Tomaten kostete am 14. August fast 80 Schekel (etwa 20 Euro) und damit das Zwanzigfache ihres Preises vor dem 7. Oktober 2023. Nachdem die israelischen Behörden einen Mechanismus genehmigten, der die begrenzte Einfuhr bestimmter Handelsgüter nach Gaza durch geprüfte Händler*innen ermöglicht, sind die Preise für einige Waren wie Zucker, Datteln, bestimmte Konserven und Mehl gesunken. Sie sind aber immer noch fast zehn Mal so hoch wie vor dem 7. Oktober. 

Auch Fischer*innen sind auf ein kleines, gefährliches Gebiet in der Nähe des Hafens beschränkt und riskieren es, beschossen oder festgenommen zu werden, wenn sie fischen gehen.

„Ich bin zu einer Last für meine Familie geworden“: Folgen für ältere Menschen

Abu Alaa, ein 62-jähriger Vertriebener aus dem Flüchtlingslager Jabalia, erzählt, wie es ist, als einzige Mahlzeit des Tages eine Linsensuppe aus der Gemeinschaftsküche zu bekommen. Wie er berichtet, wird Brot nur an einem Tag pro Woche verteilt, sodass es von der Familie rationiert werden muss. Er habe seit Monaten nichts Süßes mehr gegessen, nicht einmal mehr Obst.

Ich kann den Hunger ertragen, aber Kinder können das nicht.

Abu Alaa, ein 62-jähriger Vertriebener aus dem Flüchtlingslager Jabalia

Abu Alaa sehnt sich danach, dass die UNRWA die Verteilung von Hilfsgütern wieder aufnimmt, da er ihrem gerechten und fairen System, das sich nach der Familiengröße richtet, vertraut. Er beschreibt die Gefahren des derzeitigen Kampfes um Hilfsgüter: „Früher haben wir uns gegenseitig unterstützt, vor allem jene, die Hilfe brauchten. Das war auch noch am Anfang dieses Krieges so, aber jetzt lassen sich die Menschen nur noch von ihrem eigenen Überlebensinstinkt leiten.“ 

Der 66-jährige Nahed erzählte Amnesty International, dass der Kampf um Essen an den Hilfsrouten „Menschen ihre Menschlichkeit nimmt“. Er sagt:

Ich musste hingehen, weil ich niemanden habe, der sich um mich kümmert. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen Mehlsäcke davontrugen, die mit dem Blut derer befleckt waren, die gerade erschossen worden waren. Selbst Menschen, die ich kannte, waren kaum wiederzuerkennen. Die Erfahrung von Hunger und Krieg hat Gaza komplett verändert; sie hat unsere Werte verändert.

Nahed, 66

Ältere Menschen sind mit am härtesten von der Vertreibung betroffen.

Die 75-jährige Aziza erzählte Amnesty International von ihrem Wunsch zu sterben:

Ich habe das Gefühl, zu einer Last für meine Familie geworden zu sein. Als wir vertrieben wurden, mussten sie mich in einem Rollstuhl schieben. Wegen der extrem langen Schlangen vor den Toiletten in dem Lager, in dem wir untergekommen sind, brauche ich Windeln für Erwachsene, die sehr teuer sind. Ich brauche Medikamente für Diabetes, Blutdruck und eine Herzerkrankung und musste welche nehmen, die abgelaufen waren. Ich denke immer, dass die kleinen Kinder, meine Enkel*innen, es verdient haben zu leben. Ich habe das Gefühl, dass ich ihnen, dass ich meinem Sohn, zur Last falle.

Aziza, 75

„Vielschichtige ineinandergreifende Zerstörung“: Tödliche Mischung aus Hunger und Krankheit

Ein Notfallarzt aus dem Krankenhaus al-Shifa in Gaza-Stadt zeichnete ein düsteres Bild. Bei einem Interview mit Amnesty International am 24. Juli wies er darauf hin, dass Menschen mit einem höheren Risiko – wie Säuglinge, Kinder mit bestehenden Erkrankungen, ältere Personen und Personen mit Behinderungen – von den Folgen des Mangels an Nahrung, Medikamenten, sauberem Wasser und Hygiene unverhältnismäßig stark betroffen seien. Diese Engpässe werden durch die ständige Angst und Not noch verschärft. 

Der Arzt betonte, dass viele Patient*innen ein „angemessenes Leben“ führen würden, wenn es die „Kombination aus Hunger, Zerstörung, dem Abbau des Gesundheitssystems, den unhygienischen Bedingungen und mehrfachen Vertreibungen unter unmenschlichen Bedingungen nicht gäbe“.

Der Mangel an bestimmten nahrhaften Lebensmitteln führt zu vermeidbaren gesundheitlichen Problemen. So erlitt ein jugendlicher Nierentransplantationspatient aufgrund von verschmutztem Wasser und unzureichender Ernährung einen Rückfall. Diabetiker*innen, die ihre Erkrankung bisher durch eine strenge Diät im Griff hatten, stehen nun vor großen Schwierigkeiten, da nährstoffreiche Lebensmittel wie Gemüse, Fisch, Huhn und Bohnen nicht mehr verfügbar sind und es an medizinischer Versorgung mangelt.

Der Arzt erklärte, der extreme Hunger in der Bevölkerung habe andere Gesundheitsproblematiken überschattet, insbesondere den alarmierenden Anstieg von Infektions- und durch Wasser übertragenen Krankheiten sowie von Meningitis und Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Er fügte hinzu, ein gravierender Mangel an Antibiotika und die extreme Überlastung seines Krankenhauses, das nur teilweise funktionsfähig ist, hätten das, was er als „unsichtbare Katastrophe“ bezeichnete, noch verschlimmert. So bliebe oft unbemerkt, dass sich Krankheiten ausbreiten oder Menschen mit chronischen Erkrankungen zu kämpfen haben, die sie zuvor behandeln konnten, weil man sich „nur auf die Menge der eintreffenden Nahrung konzentriert, ohne sich ein umfassendes Bild von der Lage zu machen“. 

GBS ist eine seltene und potenziell lebensgefährdende neurologische Erkrankung, bei der das Immunsystem das periphere Nervensystem angreift. Ausgelöst wird GBS durch Virusinfektionen wie denen, die Durchfall verursachen. Das Syndrom kann sich auf alle Sinnesorgane auswirken, Muskelschwäche und Herzrhythmusstörungen auslösen, die Atmung beeinträchtigen und zu Lähmungen führen. Dem Gesundheitsministerium zufolge wurden bis zum 12. August 2025 insgesamt 76 Fälle von GBS dokumentiert, die alle in Juli und August auftraten. Vier Palästinenser*innen, darunter zwei Kinder, sind an den Folgen ihrer GBS-Erkrankung gestorben. 

Intravenöse Immunoglobuline (IVIG), die wichtigste Medikation zur Behandlung von GBS, sind derzeit aufgrund der Blockade durch Israel in Gaza nicht verfügbar. Schreitet die Krankheit weiter fort und befällt die Lungenmuskulatur, führt dies zu einer Atemschwäche. Die Patient*innen müssen dann intubiert werden. Für einen dezimierten Gesundheitssektor, der ohnehin täglich überlastet ist, sind die Kapazitäten zur Bewältigung dieser Kombination aus Hunger und Krankheit äußerst begrenzt.

Die Folgen sind für Patient*innen wie medizinisches Personal gleichermaßen schlimm. Wunden brauchen wesentlich länger, um zu heilen, und Leichtverletzte müssen länger im Krankenhaus bleiben, weil ihr Körper aufgrund mangelnder Ernährung zu schwach ist. Der Notarzt aus dem Krankenhaus al-Shifa spricht von einer „vielschichtigen, ineinandergreifenden Zerstörung“: Ein verwüstetes Krankenhaus wie al-Shifa müsse mit Hunger, zerstörter Infrastruktur, ständigen Bombardierungen und der Gefahr einer weiteren Vertreibung kämpfen. Das al-Shifa-Krankenhaus, einst das größte Krankenhaus im Gazastreifen, ist nach zwei großen israelischen Angriffen im November 2023 und März 2024 kaum noch funktionsfähig. Wie der Arzt Amnesty mitteilte, ist das medizinische Personal durch den ständigen und anhaltenden Krisenzustand zermürbt.

Eine bereits katastrophale Situation droht sich zu einer Katastrophe noch größeren Ausmaßes zu entwickeln, wenn Israel seinen Plan einer umfassenden Bodeninvasion in Gaza-Stadt wahrmachen sollte. Eine derartige Militäroperation würde den beiden in der Stadt tätigen Zentren zur Bekämpfung von Unterernährung sowie den noch verbliebenen medizinischen Einrichtungen einen verheerenden und irreversiblen Schlag versetzen.

Erika Guevara Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International

Ausweitung der Besatzung bringt weitere Gefahr

Angesichts der Zustimmung des israelischen Kabinetts zu dem Plan, die Besetzung des Gazastreifens durch eine Offensive auf Gaza-Stadt auszuweiten, sagt ein Binnenvertriebener aus dem Flüchtlingslager Jabalia:

Ich wurde während dieses Krieges bereits 14-mal vertrieben; ich habe nicht mehr die Kraft zu fliehen; ich habe kein Geld, um meine beiden Kinder mit Behinderungen zu transportieren. Meine Muskeln tun weh, ich bin zu erschöpft, um gehen zu können, ganz zu schweigen davon, meine Kinder zu tragen. Wenn sie die Stadt angreifen sollten, werden wir hier einfach sitzen und auf unseren Tod warten.

Binnenvertriebener aus dem Geflüchtetenlager Jabalia

„Als Besatzungsmacht ist Israel gesetzlich verpflichtet, die Zivilbevölkerung zu schützen und für diese Sorge zu tragen. Dazu muss es die Einfuhr von lebenswichtigen Gütern, die sichere und würdige Verteilung von Hilfsgütern und den ungehinderten Zugang zu Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern in ganz Gaza ermöglichen. Hunger darf niemals als Kriegswaffe eingesetzt werden. Die UNRWA und andere UN-Organisationen sowie Hilfsorganisationen müssen sicheren und ungehinderten Zugang zum gesamten Gazastreifen haben.“

Die Welt kann Israel nicht weiterhin dafür auf die Schulter klopfen, dass es tröpfchenweise Hilfe bereitstellt und diese kosmetischen Maßnahmen als ausreichende Reaktion auf seine gezielte Zerstörung palästinensischen Lebens in Gaza betrachtet“, so Erika Guevara-Rosas. 

„Angesichts der Gräuel, die Israel der palästinensischen Bevölkerung in Gaza antut, muss die internationale Gemeinschaft, insbesondere Israels Verbündete, darunter die Europäische Union und ihre Mitglieder, ihren moralischen und rechtlichen Verpflichtungen nachkommen, um Israels anhaltenden Völkermord zu beenden. Die Staaten müssen unverzüglich alle Waffenlieferungen aussetzen, gezielte Sanktionen verhängen und jegliche Zusammenarbeit mit israelischen Einrichtungen beenden, wenn diese zu Israels Völkermord an den Palästinenser*innen im Gazastreifen beiträgt.“

Österreichische Regierung muss Taten auf leere Worte folgen lassen

Während weltweit UN-Gremien, Staaten und Menschenrechtsorganisationen den Genozid feststellen, hält die österreichische Bundesregierung an ihrer blinden Unterstützung der israelischen Regierung fest. Und tut – außer leeren Worten – nichts. 

Die österreichische Bundesregierung muss sich aktiv für ein dauerhaftes Ende des Genozids und weiterer Völkerrechtsverstöße einsetzen und Rechenschaft einfordern.

Wir fordern von der österreichischen Regierung:

  • in der direkten Zusammenarbeit mit anderen Staaten und auf internationaler Ebene auf einen dauerhaften Waffenstillstand zu drängen,
  • den sofortigen Zugang humanitärer Hilfe nach Gaza sicherzustellen, ein Ende der Blockade zu fordern und den Wiederaufbau der zerstörten Gesundheitseinrichtungen und anderer wesentlicher Infrastruktur voranzutreiben,
  • den Genozid an den Palästinenser*innen anzuprangern und öffentlich ein Ende der Apartheid, der illegalen Besatzung und des Genozids zu fordern,
  • sich für die Freilassung der Geiseln und aller willkürlich Inhaftierten einzusetzen,
  • dazu beizutragen, die Straflosigkeit Israels zu beenden und alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen,
  • dafür einzutreten, dass die Waffenlieferungen und militärische Unterstützung an den Staat Israel sofort gestoppt werden.

Jetzt Petition unterzeichnen und Österreich auffordern, zu handeln!