Der Jahrestag der Proteste steht kurz bevor und die Familien der Getöteten befürchten, dass die Behörden auf die bekannten repressiven Taktiken zurückgreifen werden, um sie daran zu hindern, Gedenkveranstaltungen abzuhalten“, so Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
„Die internationale Gemeinschaft muss den Familien der Getöteten beistehen, indem sie die iranischen Behörden über diplomatische Wege und öffentlich dazu anhält, die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Land zu respektieren. Die Familien sind vor willkürlicher Inhaftierung, Bedrohung und anderen Vergeltungsmaßnahmen zu schützen. Die Staaten müssen die iranischen Behörden zudem auffordern, alle diejenigen freizulassen, die nur deshalb in Haft sind, weil sie sich für Wahrheit und Gerechtigkeit für die Getöteten eingesetzt haben. Die gegen sie verhängten Schuldsprüche und Strafen sind rückgängig zu machen und alle Anklagen gegen Personen, die lediglich ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen haben, müssen fallengelassen werden.“
Im Zuge der landesweiten Proteste, die im Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 ausbrachen, wurden Hunderte Menschen, darunter auch Minderjährige, von den Sicherheitskräften rechtswidrig getötet. Niemand ist bisher für dieses brutale Vorgehen zur Verantwortung gezogen worden.
Brutale Unterdrückung und Gewalt: Angriffe der iranischen Behörden auf Familien von Opfern
Amnesty International dokumentiert in ihrem jüngsten Bericht, wie 36 Familien aus zehn Provinzen im ganzen Land in den vergangenen Monaten Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Unter ihnen befinden sich die Familien von 33 Personen, die während der Proteste rechtswidrig von den Sicherheitskräften getöteten wurden; die Familien von zwei Personen, die in Verbindung mit den Protesten willkürlich hingerichtet wurden; und die Familie einer Person, die im Gewahrsam gefoltert wurde und sich nach der Freilassung das Leben nahm.
Die gegen die Familien der Getöteten verübten Menschenrechtsverletzungen reichen von willkürlicher Festnahme und Inhaftierung bis hin zu ungerechtfertigter Strafverfolgung auf der Grundlage vage formulierter Anschuldigungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit, die in einigen Fällen zu Gefängnis- und Körperstrafen führten. Darüber hinaus wurden Betroffene vorgeladen und von der Staatsanwaltschaft oder Polizei unter Zwang verhört, und einige wurden rechtswidrig überwacht. Auch vor der Zerstörung oder Schändung von Gräbern schrecken die Behörden nicht zurück.
Im Juli 2023 sagte die Mutter des 16-jährigen Artin Rahmani, der am 16. November 2022 in Izeh in der Provinz Chuzestan von Sicherheitskräften erschossen wurde, auf Twitter: „Die Behörden der Islamischen Republik haben meinen unschuldigen Sohn getötet, meinen Bruder und meine Verwandten inhaftiert, und mich zur Staatsanwaltschaft vorgeladen, um mich zum Schweigen zu bringen, weil ich es gewagt habe, Gerechtigkeit für die Tötung meines Kindes zu fordern. Menschen im Iran haben kein Recht zu protestieren, und jegliche Forderung nach Freiheit wird mit großer Gewalt unterdrückt.“
Die Behörden haben auch versucht, die Familien der Getöteten davon abzuhalten, an den Gräbern ihrer Verwandten Andachten abzuhalten, z. B. am Geburtstag der Getöteten. Wenn Familien dennoch Gedenkveranstaltungen abhielten, berichteten sie über eine starke Präsenz der Sicherheitskräfte, die gewaltsam gegen Anwesende vorgingen, Bilder machten und Familienangehörige schlugen oder willkürlich festnahmen.
Verunstaltung von Gräbern
Amnesty International dokumentierte und veröffentlichte Bildmaterial über die Zerstörung der Gräber von mehr als 20 Getöteten in 17 Städten. Grabstätten wurden mit Teer und Farbe beschmiert oder durch Brandstiftung beschädigt. Grabsteine wurden zerstört und Inschriften, die die Opfer als „Märtyrer*innen“ oder als für die Freiheit Getötete beschrieben, wurden entfernt. Bisher haben die Behörden keine Untersuchungen eingeleitet, um die mutmaßlich Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen, oder um die neuerliche Zerstörung von Grabstätten zu vermeiden.
In manchen Fällen wurden Gräber vor den Augen der Familienangehörigen geschändet. In anderen Fällen geschah dies über Nacht oder zu Zeiten, als niemand anwesend war. Davor hatten die Behörden wiederholt damit gedroht, Grabsteine zu zerstören, auf denen Unterstützung für die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ ausgedrückt wurde oder deren Inschriften nahelegten, dass die Person aufgrund politischer Unterdrückung eines unnatürlichen Todes gestorben sei.