
Maryia Kalesnikavas politische Haft in Belarus: „Wir fürchten um ihr Leben“
8. September 2025 | Von Tatsiana KhomichSeit fünf Jahren befindet sich meine Schwester, Maryia Kalesnikava, in Haft. Sie wurde am 7. September 2020 wegen ihrer prominenten Rolle bei den Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden friedlichen Protesten in Belarus festgenommen und später zu elf Jahren Gefängnis verurteilt – und das nur, weil sie für Menschenrechte kämpfte. Seither bangen wir um ihr Leben. Meine Hoffnung ruht auf denen, die in Freiheit sind – ihr Engagement könnte für das Schicksal meiner Schwester entscheidend sein.
Sie ist die Schwester der belarusischen Oppositionspolitikerin Maryia Kalesnikava und macht seit Jahren auf die Situation von Maryia sowie die schlechte Menschenrechtslage in Belarus aufmerksam.
Sie ist die Schwester der belarusischen Oppositionspolitikerin Maryia Kalesnikava und macht seit Jahren auf die Situation von Maryia sowie die schlechte Menschenrechtslage in Belarus aufmerksam.
Ich lebe mittlerweile im Exil in Europa. Meine Hauptbeschäftigung in den letzten Jahren ist, auf die Situation meiner Schwester und aller anderen politischen Gefangenen in Belarus aufmerksam zu machen. Denn diese werden unter katastrophalen Bedingungen festgehalten.
Um Maryia mache ich mir große Sorgen. Seit Anfang 2025 haben wir keine direkten Nachrichten mehr von ihr bekommen. Im Februar 2025 erhielten wir einen kurzen Brief, nur ein paar Sätze, in denen sie schrieb, dass es ihr gut gehe. Doch inwieweit das der Wahrheit entspricht, ist völlig unklar.
WArum wird meiner Schwester dieses Unrecht angetan?
Maryia unterstützte bei den belarusischen Präsidentschaftswahlen 2020 gemeinsam mit Veranika Tsapkala die unabhängige Kandidatin Svyatlana Tsikhanouskaya. Unter dem Regime von Aljaksandr Lukaschenka wurden Veranika und Svyatlana schließlich ins Exil gezwungen und Maryia wurde zur profiliertesten Oppositionsfigur in Belarus.
Am 7. September 2020 wurde sie jedoch von Sicherheitskräften entführt und zur ukrainischen Grenze gebracht. Dort weigerte sie sich, Belarus zu verlassen und zerriss aus Protest ihren Pass. Sie wurde daraufhin inhaftiert und in einem nicht-öffentlichen Verfahren wegen Verbrechen gegen den Staat schuldig gesprochen. Seither befindet sich Maryia in Haft.
Maryias Gesundheitszustand verschlechtert sich
Nachdem unser Vater sie Ende 2024 im Gefängnis besuchen durfte, wurde sie aus der Einzelhaft in eine Frauenabteilung verlegt. Uns wurde mitgeteilt, dass sich ihre Ernährung und medizinische Versorgung leicht verbessert hätten.
Trotzdem hat sich ihr Gesundheitszustand im Laufe der Jahre erheblich verschlechtert. Zwischen Anfang 2023 und November 2024 verbrachte sie fast zwei Jahre in völliger Isolation. Zuvor musste sie sich einer Notoperation wegen eines perforierten Magengeschwürs unterziehen und verlor erheblich an Gewicht. Sie benötigt zudem eine spezielle Diät – etwas, das das Gefängnissystem selbst unter verbesserten Bedingungen nicht gewährleisten kann.
Man muss sich vorstellen: Fast eineinhalb Jahre lang durfte Maryia nur etwa 30 Minuten pro Tag nach draußen. Das bedeutet praktisch keine Sonneneinstrahlung, keine frische Luft, keine Vitamine und eine völlig unzureichende Ernährung – all das hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen. Und natürlich ist auch der psychische Druck enorm. Während des Treffens mit unserem Vater erwähnte Maryia auch, dass sie unter Bluthochdruck, Herzproblemen und Hautproblemen leidet.
Tatsiana Khomich, Schwester von Maryia Kalesnikava
Gleichzeitig war Maryia wirklich glücklich, bei dem Treffen unseren Vater zu sehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie emotional es gewesen sein muss – nach so langer Zeit endlich wieder vereint zu sein. Er hat mir erzählt, dass sie viel lächelte, nach unserer Familie fragte und wissen wollte, wie es allen ging. Darüber sprachen sie am meisten – Familie, Angehörige, Alltag.
Sie redeten auch über das Weltgeschehen, aber es war einfach nicht genug Zeit. Das Treffen dauerte nur eineinhalb Stunden – und der größte Teil davon war mit persönlichen Gesprächen gefüllt, wie man es nach Jahren ohne Kontakt erwarten würde.
Abgesehen von dem Treffen und dem kurzen Brief im Februar ist jeglicher Kontakt zu Maria abgebrochen: keine Telefonate, keine Briefe und keine Besuche von Familienangehörigen oder Rechtsbeiständen waren möglich.
Wir fürchten um ihr Leben, insbesondere weil wir keinen direkten Kontakt mehr zu ihr haben. Wir wissen zu keinem Zeitpunkt, was mit ihr geschieht – und die wenigen Informationen, die wir erhalten, kommen oft erst Wochen später, und zwar nur über andere Personen, die aus dem Gefängnis entlassen worden sind.
Tatsiana Khomich
Seit 2020 sind mindestens acht politische Gefangene in Belarus in Haft gestorben. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivist*innen befinden sich mindestens 28 weitere in kritischem Zustand – sie leiden an Krebs, Diabetes oder benötigen eine Organtransplantation. Natürlich habe ich große Angst um Maryias Leben. Jeder Tag im Gefängnis ist ein Risiko für sie.
Ich kann nur hoffen, dass sie noch durchhält und weiterhin stark und mutig bleibt. Das Gefängnis bricht Menschen. Langanhaltende Isolation, ernsthafte Gesundheitsprobleme und ständiger psychischer Druck fordern einen hohen Tribut. Ich wünsche mir mehr als alles andere, sie wiederzusehen – frei, lächelnd und voller Lebensfreude.
Die Europäische Union muss handeln
Jetzt sind wir an der Reihe, mutig zu sein. Ihr Mut muss mit unserem Mut beantwortet werden – dem Mut derer, die frei sind. Die Europäische Union – und Länder wie Österreich – müssen sich für Maryia Kalesnikava einsetzen. Wir brauchen das gleiche Engagement. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln und Maryia und andere belarusische politische Gefangene nach Hause zu holen. Das ist unsere Verantwortung.
Ich hoffe, dass sich die EU dafür entscheidet, zu handeln – um der Menschenleben willen und für die Zukunft von Belarus. Denn wenn wir demokratische Werte hochhalten wollen, müssen wir zeigen, dass das Leben der Menschen zählt – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis.
Ich wünsche mir ein Belarus, in dem Menschen nicht für ihre Überzeugungen bestraft werden. In dem Familien nicht durch Gefängnismauern und Grenzen getrennt werden und in dem Freiheit nicht als Druckmittel bei Verhandlungen gesehen wird. Ein Land, das nicht in Angst und Konflikten gefangen ist, sondern in dem die Menschen einfach leben dürfen.
Tatsiana Khomich
Im Jahr 2020 haben wir gemeinsam einen lauten, mutigen Schritt gewagt. Heute brauchen wir einen anderen Weg – einen ruhigeren, strategischeren und realistischeren. Wir müssen echte Wege für Veränderungen schaffen.
Wir können es uns nicht leisten, ewig auf den „richtigen“ Moment zu warten. Wir müssen uns für das Handeln entscheiden – und für das Leben. Nicht für Angst, nicht für Lähmung, sondern für das Leben.
Die Zeit zum Handeln ist nicht in ferner Zukunft. Sie ist jetzt.