Das Recht auf Leben und Gesundheit schützen
In Österreich ist trotz allgemeiner Verfügbarkeit von COVID-19 Impfstoffen die Durchimpfungsrate innerhalb der Bevölkerung gering. Die Bundesregierung plant nun als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung die Einführung einer generellen Impflicht und hat einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt.
Die Einführung einer Impfpflicht stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, geschützt durch das Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art 8 EMRK und Art 17 IPbpR, dar. Daher muss grundsätzlich gewährleistet werden, dass alle Menschen das Recht haben, frei und auf Kenntnis der Sachlage gegründet eine Zustimmung zu einer Impfung geben zu können.
Allerdings kann eine Verpflichtung zur Impfung gerechtfertigt und sogar menschenrechtlich geboten sein, um das Recht auf Leben und Gesundheit anderer sowie die öffentliche Gesundheit zu schützen. Denn Menschenrechte schützen nicht nur uns selbst, sondern dienen dem Schutz von uns allen.
Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden
Auch wenn die Einführung einer allgemeinen Impflicht grundsätzlich aufgrund der epidemiologischen Situation zum Schutz der Gesundheit als letztes Mittel menschenrechtlich geboten sein kann, muss ein derartiger Eingriff stets verhältnismäßig sein. Jede Einschränkung der Menschenrechte muss eine gesetzliche Grundlage haben, ein legitimes Ziel verfolgen – beispielsweise den Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Rechte anderer – und sie muss notwendig sein. Das bedeutet, dass das legitime Ziel nicht durch ein anderes, gelinderes Mittel erreicht werden kann und, dass die Einschränkung in einem angemessenen Verhältnis zur Erreichung des legitimen Zieles steht. Grundsätzlich muss immer das gelindeste Mittel vorgezogen werden. Die Eingriffe müssen zeitlich begrenzt sein und dürfen sich nicht diskriminierend auswirken.
Zum Schutz der Menschenrechte sieht Amnesty International Österreich den Bedarf, den vorliegenden Entwurf zum COVID-19-Impfpflichtgesetz in einigen Punkten anzupassen. Dazu zählen die vorgesehen Geldstrafen, das Prinzip der Nicht-Diskriminierung und das Kindeswohl.
Strafen
Bei Nichteinhalten der Impflicht sieht der Ministerialentwurf – im vereinfachten Verfahren – die Verhängung von Strafverfügungen iHv € 600 alle drei Monate sowie im ordentlichen Verwaltungsverfahren Verwaltungsstrafen von bis zu € 3.600 vor. Es muss sichergestellt werden, dass die Vollstreckung der Geldstrafen nicht zu einer unverhältnismäßigen existenziellen Gefährdung jener Menschen führt, die ausgrenzungs- oder armutsgefährdet sind – das betrifft 1.592.000 Menschen in Österreich.
Nicht-Diskriminierung
Eine Impfpflicht darf sich nicht diskriminierend auf einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen auswirken. Der Entwurf sieht vor, dass alle von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassenen Impfstoffe akzeptiert sind, d.h. Impfstoffe der Hersteller AstraZeneca, BioNTech/Pfizer, Moderna und Janssen-Cilag/Johnson und Johnson. Die Impfflicht umfasst alle Menschen, die in Österreich einen Wohnsitz bzw. eine Hauptwohnsitzbestätigung nach dem Meldegesetz 1991 haben. Daher betrifft sie beispielsweise auch Personen aus dem Ausland, die in Österreich studieren, oder sogenannte „24-h Betreuer*innen“ – um nur einige exemplarisch zu nennen. Damit sind auch Menschen von der Impfpflicht betroffen, die möglicherweise bereits geimpft sind – allerdings mit einem nicht von der EMA, sehr wohl aber mit einem der von der Weltgesundheitsbehörde (WHO) zugelassenen Impfstoff, wie beispielsweise der Hersteller Sinovac oder Sinopharm. Um diskriminierende Auswirkungen der Impfpflicht zu vermeiden, empfiehlt Amnesty International Österreich, dass eine Impfung mit einem von der WHO zugelassenen Impfstoff einer Impfung durch einen von der EMA zugelassenen Impfstoff gleichgestellt wird.
Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Bedürfnisse von Personen und Gruppen in einer besonders verletzlichen Situation bei der Umsetzung berücksichtigt werden. So hat eine kürzlich durchgeführte Analyse der Impfquoten nach sozioökonomischen Kriterien ergeben, dass Bildung und Erwerbstätigkeit einen großen Einfluss auf die Impfbereitschaft haben. Daher muss sichergestellt werden, dass Menschen, die aufgrund ihres sozialen Status und/oder Erfahrungen von Diskriminierung einen erschwerten Zugang zu oder geringes Vertrauen in staatliche Informationen haben, mit angemessenen zielgerichteten Informationen und Angeboten erreicht werden.
Kindeswohl
Bei der im Entwurf vorgesehenen Impfung von Menschen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren muss der Staat sicherstellen, dass stets das Kindeswohl im Sinne des Art 1 Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern vorrangig berücksichtigt wird. Während dies auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse allgemein angenommen werden kann, muss es stets in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände geprüft werden. Zudem muss der Staat umfassende Maßnahmen setzen, um das Vertrauen von Eltern und Kindern in die Sicherheit der Impfung zu stärken und eine freiwillige Zustimmung zur Impfung zu ermöglichen. Dies setzt u.a. zielgerecht aufgearbeitete Informationen und Angebote voraus, um auf Kenntnis der Sachlage gegründet eine Zustimmung zu einer Impfung geben zu können. Der vorliegende Ministerialentwurf geht nach Ansicht von Amnesty International Österreich nicht ausreichend darauf ein, in welcher Form die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohles sichergestellt wird.
Zielgruppengerechte Kommunikation muss intensiviert werden
Unabhängig von der Prüfung des vorliegenden Gesetzesentwurfes kritisiert Amnesty International Österreich, dass die für das Erreichen einer ausreichend hohen Durchimpfungsrate notwendigen Aufklärungsmaßnahmen in Form von zielgruppengerechten Kampagnen zu einem großen Teil erst zu einem Zeitpunkt erfolgt sind, als von Seiten der Regierung bereits öffentlich über eine geplante Impfpflicht gesprochen wurde. Seit Sommer 2021 gibt es in Österreich eine breit angelegte Impfkampagne. Erst im Herbst wurden die Informations- und Kommunikationsmaßnahmen dazu intensiviert.
Parallel dazu wurde aber bereits öffentlich die Einführung einer Impfpflicht von Regierungsseite angekündigt. So wurden beispielsweise Schreiben mit Impfterminen samt entsprechender zielgruppengerechter Informationen über die Impfung relativ zeitgleich mit einer öffentlichen Ankündigung einer Impfpflicht durch Mitglieder der Bundesregierung versandt.
Die Bundesregierung sollte bis zum Inkrafttreten der allgemeinen Impfpflicht ihre Bemühungen intensivieren, durch geeignete und niederschwellige Kommunikation möglichst viele Menschen zu erreichen und über die Impfung aufzuklären.