Unterdrückung über territoriale Grenzen hinweg
Die Kriege von 1947-49 und 1967, Israels andauernde Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Schaffung verschiedener Rechts- und Verwaltungssysteme innerhalb des Territoriums haben die palästinensischen Gemeinschaften voneinander getrennt und von der jüdischen Bevölkerung Israels separiert.
Palästinenser*innen sind geografisch und politisch zersplittert und erfahren je nach ihrem Aufenthaltsort und ihrem rechtlichen Status unterschiedliche Formen der Unterdrückung.
Die palästinensischen Bürger*innen Israels genießen derzeit mehr Rechte und Freiheiten als die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten. Gleichzeitig unterscheiden sich die Erfahrungen der Palästinenser*innen im Gazastreifen stark von denen im Westjordanland. Die Recherchen von Amnesty International zeigen jedoch, dass alle Palästinenser*innen demselben übergreifenden System unterworfen sind. Die israelischen Behörden verfolgen bei ihrem Umgang mit den Palästinenser*innen in allen Bereichen dasselbe Ziel: die jüdische Bevölkerung Israels bei der Verteilung von Land und Ressourcen zu bevorzugen und die palästinensische Präsenz und ihren Zugang zu Land zu minimieren.
Amnesty International weist nach, dass die israelischen Behörden die Palästinenser*innen als separate und nachrangige Gruppe behandeln und sie mittels ihrer nicht-jüdischen, arabischen Identität definieren. Diese rassistische Diskriminierung ist in Gesetzen verankert, die Palästinenser*innen in ganz Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten betreffen.
So erhalten beispielsweise palästinensische Bürger*innen Israels keine Nationalität, was eine rechtliche Unterscheidung von jüdischen Israelis darstellt.
Im Westjordanland und im Gazastreifen, wo die israelischen Behörden seit 1967 das Melderegister kontrollieren, besitzen die Palästinenser*innen keine Staatsangehörigkeit, die meisten werden als staatenlos betrachtet und benötigen ein Ausweisdokument des israelischen Militärs, um in den besetzten Gebieten zu leben und zu arbeiten.
Palästinensischen Geflüchteten, die in den bewaffneten Konflikten von 1947-49 und 1967 vertrieben wurden, und ihren Nachkommen wird das Recht auf Rückkehr an ihre früheren Wohnorte nach wie vor verweigert. Die Geflüchteten auszuschließen, ist eine grobe Verletzung internationalen Rechts und hält Millionen von Menschen in einem unsicheren Zustand des Vertriebenseins.
Palästinenser*innen im annektierten Ostjerusalem erhalten anstelle der Staatsbürgerschaft einen dauerhaften Aufenthaltsstatus, der allerdings nur dem Namen nach dauerhaft ist. Seit 1967 wurde mehr als 14.000 Palästinenser*innen nach Ermessen des israelischen Innenministeriums die Aufenthaltsgenehmigung entzogen, und sie mussten Ostjerusalem gegen ihren Willen verlassen.
Bürger*innen mit weniger Rechten
Israels palästinensische Staatsangehörige stellen etwa 21 % der Bevölkerung. Sie sehen sich vielen Formen der institutionellen Diskriminierung gegenüber. 2018 fand die Diskriminierung der Palästinenser*innen Ausdruck in dem Nationalstaatsgesetz, das Israel zum ersten Mal als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ bezeichnete. Das Gesetz unterstützt außerdem den Bau jüdischer Siedlungen und verringert die Bedeutung des Arabischen als offizielle Sprache in Israel.
Der Bericht dokumentiert wie Palästinenser*innen auf 80% des staatlichen israelischen Landes wirksam daran gehindert werden, Land zu pachten. Grund dafür sind die rassistischen Beschlagnahmungen von Land und ein Netz aus diskriminierenden Gesetzen zu Landvergabe, Planung und Raumordnungsvorhaben.
Die Situation in der Negev-Wüste/Naqab im Süden Israels ist ein gutes Beispiel dafür, wie Planungs- und Baumaßnahmen der israelischen Behörden Palästinenser*innen absichtlich ausschließen. Seit 1948 haben die israelischen Behörden verschiedene Maßnahmen im Negev/Naqab ergriffen, darunter das Ausweisen großer Bereiche als Naturschutzgebiete oder Übungsgebiete des Militärs und sie haben dort Zielvorgaben für die Erhöhung der jüdischen Bevölkerung festgesetzt. Dies hatte verheerende Folgen für die Zehntausende von palästinensischen Beduin*innen, die in der Region leben.
Fünfunddreißig Beduin*innendörfer, in denen rund 68.000 Menschen leben, sind derzeit von Israel „nicht anerkannt“, was bedeutet, dass sie von der nationalen Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten sind. Außerdem droht ihnen der Abriss. Da die Dörfer keinen offiziellen Status haben, sind ihre Bewohner*innen auch in ihrer politischen Mitwirkung eingeschränkt und vom Gesundheits- und Bildungssystem ausgeschlossen. Diese Bedingungen haben viele dazu gezwungen, ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, was einer Zwangsumsiedlung gleichkommt.
Die jahrzehntelange bewusste Ungleichbehandlung der palästinensischen Bürger*innen Israels hat dazu geführt, dass sie im Vergleich zur jüdischen Bevölkerung Israels ständig wirtschaftlich benachteiligt sind. Verschärft wird dieses Problem durch die diskriminierende Zuweisung staatlicher Mittel: Ein jüngstes Beispiel ist das Corona-Konjunkturpaket der Regierung, von dem nur 1,7 % an die palästinensischen Kommunalbehörden gingen.
Enteignung
Die Enteignung und Vertreibung von Palästinenser*innen aus ihren Häusern ist eine wichtige Säule des Apartheidsystems. Seit seiner Gründung hat der israelische Staat massiv Land von Palästinenser*innen beschlagnahmt und wendet weiterhin unzählige Gesetze und politische Maßnahmen an, um die Palästinenser*innen in kleine Enklaven zu zwingen. Seit 1948 haben die israelischen Behörden Hunderttausende von palästinensischen Häusern und anderen Grundstücken in allen Gebieten, die unter israelischer Gerichtsbarkeit und faktischer Kontrolle stehen, abgerissen.
Wie in der Negev-Wüste leben Palästinenser*innen in Ostjerusalem und Zone C der besetzten palästinensischen Gebiete unter vollständiger Kontrolle der israelischen Behörden. Die israelischen Behörden verweigern den Palästinenser*innen in diesen Gebieten Baugenehmigungen und zwingen sie dadurch, illegale Bauten zu errichten, die dann immer wieder abgerissen werden.
In den besetzten palästinensischen Gebieten verschärft die ständige Ausweitung der rechtswidrigen israelischen Siedlungen die Situation. Der Bau dieser Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten ist seit 1967 eine Politik der israelischen Regierung. Israelische Siedlungen bedecken heute 10 % des Landes im Westjordanland, und etwa 38 % des palästinensischen Landes in Ostjerusalem wurde zwischen 1967 und 2017 enteignet.
Palästinensische Viertel in Ostjerusalem werden häufig von Siedlerorganisationen ins Visier genommen, die mit Unterstützung der israelischen Regierung palästinensische Familien vertreiben und ihre Häuser Siedler*innen überlassen. Eines dieser Viertel, Sheikh Jarrah, ist seit Mai 2021 Schauplatz häufiger Proteste, da palästinensische Familien unter Androhung einer Klage der Siedler*innen um den Erhalt ihrer Häuser kämpfen.
Drakonische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
Seit Mitte der 1990er Jahre schränken die israelischen Behörden die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten immer stärker ein. Ein Netz aus militärischen Kontrollpunkten, Straßensperren, Zäunen und anderen Strukturen erschwert die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete und schränkt ihre Reisen nach Israel oder ins Ausland ein.
Ein 700 Kilometer langer Zaun, den die israelischen Behörden immer weiter ausbauen, schließt palästinensische Gemeinden durch „Militärzonen“ ein, und die Bewohner*innen müssen mehrere Sondergenehmigungen einholen, wenn sie ihre Häuser betreten oder verlassen wollen. Im Gazastreifen leben mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen unter einer israelischen Blockade, die zu einer humanitären Krise geführt hat. Für die Bewohner*innen des Gazastreifens ist es nahezu unmöglich, ins Ausland oder in die anderen besetzten palästinensischen Gebiete zu reisen. Sie sind praktisch vom Rest der Welt abgeschottet.
„Die Palästinenser*innen werden durch die Schwierigkeit, in und über die Grenzen der besetzten palästinensischen Gebiete hinaus zu reisen, ständig an ihre Ohnmacht erinnert. Jeder ihrer Schritte muss vom israelischen Militär genehmigt werden und selbst bei der einfachsten alltäglichen Erledigung müssen sie sich durch ein Netz von gewaltsamen Kontrollen bewegen“, kommentiert Agnès Callamard.