Die schwierige wirtschaftliche Lage hat viele Familien dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und sie zur Arbeit zu schicken. Millionen von Afghan*innen wurden während und nach der Übernahme des Landes durch die Taliban aus ihren Heimatorten vertrieben, und viele der vertriebenen Kinder gehen nicht zur Schule.
Die Befragten sagten auch, dass viele Lehrer*innen keinen Unterricht geben, was vor allem darauf zurückzuführen sei, dass die Taliban ihre Gehälter nicht zahlen. Dies hat dazu geführt, dass viele Grundschulen entweder mit verminderter Kapazität arbeiten oder ganz geschlossen werden mussten.
An den Hochschulen berichteten die Studierenden, dass einige Universitäten zwar wieder geöffnet hätten, die Anwesenheitsquote aber gesunken sei, insbesondere unter den jungen Frauen.
Eine 21-jährige Medizinstudent*in aus Kabul erzählte: „In meinen Kurs waren [vor der Machtübernahme durch die Taliban] 20 junge Frauen. Jetzt sind es nur noch sechs Frauen... Die Taliban haben neue Regeln eingeführt... Niemand weiß, was in den nächsten Stunden, geschweige denn Tagen, passieren wird. In dieser Situation werden die Eltern ihre Töchter nicht zur Universität gehen lassen.“
Einschüchterung und Schikanen der Taliban gegen Lehrer*innen
Pashtana*, eine Gymnasiallehrerin, berichtete Amnesty International, dass sie Morddrohungen von den Taliban erhalten habe und vor das örtliche Gericht geladen worden sei, um sie strafrechtlich zu verfolgen, weil sie zuvor koedukativen Sportunterricht gegeben habe.
Anfang des Jahres erhielt sie einen Brief von Angehörigen der Taliban, „in dem hieß es: ‚Wenn die Taliban dich erwischen, werden sie dir die Ohren abschneiden, und das wird für andere in [deiner] Provinz eine Lehre sein‘. Jetzt bin ich untergetaucht. Sogar meine Familie denkt, dass ich außer Landes bin.“
Die 22-jährige Efat*, und Naveed*, ihr 16-jähriger Bruder, berichteten, dass sie am 18. August von zwei Taliban-Mitgliedern bewusstlos geschlagen worden seien. Sie seien auf dem Weg zu einem Englischkurs angegriffen worden, den die Taliban als „die Sprache der Ungläubigen“ bezeichneten.
Eine andere Sekundarschullehrerin gab an, dass die Taliban sie als Vergeltung für ein Medieninterview, in dem sie sich über Lehrer*innengehälter und den Zugang von Mädchen zur Sekundarschulbildung beschwert hatte, schikaniert und eingeschüchtert hätten. Sie berichtete weiter, dass ihr und mehreren anderen Lehrer*innen gedroht wurde, sie aus ihren Wohnungen zu werfen, die ihnen die vorherige Regierung zur Verfügung gestellt hatte.
Aus Sicherheitsgründen und aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen werden die genauen Orte dieser Vorfälle nicht genannt. Amnesty International wird weiterhin derartige Berichte aufnehmen, da noch nicht deutlich ist, ob diese Vorfälle ein breiteres Muster der Misshandlung von Schüler*innen und Lehrer*innen durch Angehörige der Taliban darstellen.
Schulen für militärische Zwecke genutzt
Zeug*innen berichteten Amnesty International außerdem, dass die Taliban während der Kämpfe vor der Übernahme des Landes vier Schulen für militärische Zwecke nutzten: Tughani High School und Khetib Zada High School in der Stadt Sar-e Pul, Zakhail e Khondon High School in der Stadt Kunduz und Alishing High School im Bezirk Alishing in der Provinz Laghman. Eine solche Nutzung von Schulen setzt die Schüler*innen und Lehrer*innen dem Risiko möglicher militärischer Angriffe aus, und dürfte es extrem erschweren, Bildung angemessen zu vermitteln. Diese Handlungen stehen auch im Widerspruch zu der globalen Erklärung zu sicheren Schulen, der die afghanische Regierung 2015 zustimmte.
Methodik
Vom 16. September bis 8. Oktober 2021 führte Amnesty International Telefoninterviews mit elf Lehrer*innen und Schulverwaltungen sowie zehn Schüler*innen und Studierenden im Alter von 14 bis 22 Jahren in Provinzen in ganz Afghanistan, darunter Badakhshan, Farah, Helmand, Kabul, Kandahar, Laghman, Nangahar, Samangan und Sar-e Pul.
Amnesty International befragte außerdem zwölf lokale Aktivist*innen, Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen sowie weitere Bildungsfachleute in Afghanistan.
Amnesty International hat am 6. und 12. Oktober versucht, mit Taliban-Vertreter*innen Kontakt aufzunehmen, hat aber bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine Antwort erhalten.
* = Namen zum Schutz der Betroffenen geändert