Loading...
© Privat

news © Privat

Eine Aktivistin und Transfrau erzählt: Die Realität von Trans*-Menschen in Ungarn

23. Juni 2020

Stell dir eine Welt vor, in der die Regierung deines Landes eine Schmutzkübelkampagne gegen Menschen wie dich führt und beschließt, dafür sogar ein eigenes Feld in deinem Personalausweis einzuführen… Würdest du dich in so einer Welt sicher fühlen?

Ivett, Transfrau und Aktivistin aus Ungarn

Mein wahres Ich anzunehmen, hat mir Kontrolle und Macht über mein Leben gegeben

Vorzugeben, man sei jemand anders, ist eine geistige Anstrengung. Das hat mich immer zurückgehalten. Doch jetzt kann all die Energie, die ich vorher für das Aufrechterhalten einer Fassade aufgewendet habe, in nützlichere Dinge fließen.

Vor meinem Coming-out hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Als ob ich da ein außerirdisches Wesen im Spiegel sehen würde, eine Person, die ich einfach nicht kannte. Damals war es schwierig, neue Menschen kennenzulernen. Und auch Zeit mit mehreren Menschen auf einmal zu verbringen, empfand ich als anstrengend.

Seit meinem Coming-out habe ich jedoch das Gefühl, dass ich endlich sein kann, wer ich immer schon sein sollte. Dass ich die Person mag, die ich im Spiegel sehe, unheimlich gerne Zeit mit Anderen verbringe und auch gerne neue Leute kennenlerne. Es hat mir außerdem geholfen, wieder Kontrolle über meine Karriere zu gewinnen. In den letzten paar Jahren vor der Geschlechtsanpassung litt ich immer häufiger unter depressiven Phasen, in denen ich nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Jetzt kann ich einfach ein Leben führen, das sich ganz natürlich anfühlt, und ich muss nicht so tun, als wäre ich jemand, der ich nie war. Menschen, die mich von früher kennen, meinen, dass sie mich heute allgemein als viel lebhafter und glücklicher empfinden.

Alltägliche Herausforderungen in meinem Leben – Meine Rechtsdokumente weisen meine Geschlechtsidentität nicht aus

Jedes Mal wenn ich meinen Ausweis benutze, werde ich geoutet, zudem trägt dieser meinen Deadname, einen Namen, den ich nicht einmal vor meiner Transition benutzt habe, weil ich mich nie damit identifiziert habe. Jedes Mal wenn ich irgendetwas Offizielles erledige, muss ich diesen Namen verwenden. Jedes Mal laufe ich Gefahr, negative Kommentare zu ernten und diskriminiert zu werden. Selbst wenn die Person, die diese offizielle Angelegenheit bearbeitet, nett ist, reagiert sie möglicherweise überrascht und „outet“ mich vielleicht ganz unbeabsichtigt in einem Raum voller Menschen. Die Tatsache, dass mein Ausweis weder mein wahres Geschlecht noch meinen wahren Namen aufweist, ist mit ständiger Angst verbunden, ich vermeide also ganz aktiv Situationen, in denen ich mich ausweisen muss.

Da in Ungarn nur geschlechtsspezifische Vornamen erlaubt sind und man nur aus einer Liste wählen kann, die für das jeweilige Geschlecht vorgesehen ist, kann ich nicht einmal meinen Namen ändern. Das heißt, dass ein Name, mit dem ich mich nicht identifiziere oder den ich in meinem alltäglichen Leben benutze, auf all meinen Rechtsdokumenten steht, sei es nun meine Steuererklärung oder Verträge aller Art. Einige Unternehmen verlangen sogar, dass ihre Angestellten ihren offiziellen Namen auf Zutrittskarten, Namensschildern und in der E-Mail-Adresse der Firma benutzen. In einem solchen Unternehmen könnte ich nicht arbeiten.

Ich gehöre zu den Glücklichen mit Freund*innen und Kolleg*innen, die Trans*-Personen unterstützen. Zudem lebe ich in einer recht liberalen Gegend und musste nicht viele schlimme Erfahrungen machen. Ich musste jedoch das Unternehmen verlassen, für das ich gearbeitet habe, als meine Transition begann, da einige meiner Kolleg*innen sich über verschiedene Aspekte meiner Anpassung beschwert hatten.

Für einige meiner Trans*-Freund*innen, die nicht so viel Glück haben wie ich, ist die Lage leider weitaus düsterer. Viele Gemeinschaften – besonders kleinere Dörfer – schließen ihre Trans*-Mitglieder aktiv aus. Familien distanzieren sich von ihren Trans*-Kindern, -Geschwistern und -Eltern. Sehr häufig finden sich Trans*-Personen isoliert wieder und schließen nur unter ihresgleichen Freundschaften.

Seit meinem Coming-out habe ich jedoch das Gefühl, dass ich endlich sein kann, wer ich immer schon sein sollte. Dass ich die Person mag, die ich im Spiegel sehe, unheimlich gerne Zeit mit Anderen verbringe und auch gerne neue Leute kennenlerne. Es hat mir außerdem geholfen, wieder Kontrolle über meine Karriere zu gewinnen. In den letzten paar Jahren vor der Geschlechtsanpassung litt ich immer häufiger unter depressiven Phasen, in denen ich nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Jetzt kann ich einfach ein Leben führen, das sich ganz natürlich anfühlt, und ich muss nicht so tun, als wäre ich jemand, der ich nie war. Menschen, die mich von früher kennen, meinen, dass sie mich heute allgemein als viel lebhafter und glücklicher empfinden.

Viele Gemeinschaften – besonders kleinere Dörfer – schließen ihre Trans*-Mitglieder aktiv aus. Familien distanzieren sich von ihren Trans*-Kindern, -Geschwistern und -Eltern. Sehr häufig finden sich Trans*-Personen isoliert wieder und schließen nur unter ihresgleichen Freundschaften.

Ivett, Transfrau und Aktivistin aus Ungarn

Meiner Ansicht nach ist die Aufgabe einer Regierung, jene zu unterstützen und zu schützen, denen sie dient. Nicht nur ihre eigenen Wähler*innen, sondern alle. Das heißt auch, dass keine Regierung oder eine andere Autorität den Menschen ihre Menschenrechte wegnehmen sollte. Andere einzuschränken, bloß weil man über die entsprechende Macht verfügt, ist eine Schande. Demokratie sollte nicht in Tyrannei der Mehrheit über eine Minderheit ausarten. Schließlich gibt es gute Gründe für Gesetze, die Menschen davon abhalten, einander zu verletzen. Wenn eine Regierung die Rechte von Menschen einschränken muss, dann sollten dafür immer gute Gründe vorliegen. Diese Einschränkungen sollten zudem so gering wie möglich sein. Ich erwarte mir vom ungarischen Staat respektiert und gerecht behandelt zu werden, mich auf den Schutz meiner Freiheit verlassen zu können und nicht sinnlos eingeschränkt zu werden. Es liegt sowohl im Interesse von Einzelnen als auch der Gesellschaft im Allgemeinen, dass es Trans*-Menschen möglich sein sollte, ihre Geschlechtsidentität frei auszudrücken, ohne Angst vor Demütigung oder Diskriminierung haben zu müssen.

Herber Rückschlag durch Gesetzesänderung, die legale Anerkennung von Trans*-Personen verbietet

Die menschliche Tragödie beginnt dort, wo dein persönliches Sicherheitsgefühl leidet; wo dir die Möglichkeiten genommen werden, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten; wo du es nicht wagst, am Samstagabend auszugehen oder deine Hobbys auszuüben, aus Angst angegriffen zu werden; und wo du deinen Traum aufgibst, Ingenieur*in, Ärzt*in oder etwas anderes höher Qualifiziertes mit Uniabschluss zu werden. In Verbindung mit der Schmutzkampagne gegen LGBTIQ, die seit einiger Zeit in Gange ist, hat dieses Gesetz das Potenzial, Leben und Karrieren über viele Jahre hinweg zu zerstören. Und da die ungarische Regierung immer extremere Maßnahmen gegen Minderheiten ergreift, bin ich nicht sicher, ob da nicht noch etwas Schlimmeres kommt.

Die Regierung hat kein Recht zu entscheiden, wer wir sind, oder unsere Lebensentscheidungen zu hinterfragen. Oftmals rettet eine Geschlechtsanpassung das Leben von Trans*-Personen. Es besteht also keinerlei Anlass, dass die Regierung auf eine Art und Weise eingreift, die uns unsere grundlegenden Menschenrechte von Würde, Selbstbestimmung und Recht auf persönliches Leben und Familienleben nimmt. Eine Botschaft transphober Gruppierungen, die ich besonders alarmierend finde, ist die, dass Trans*-Menschen geheilt werden sollen, und zwar nicht mittels Transition, sondern geheilt von einer – ihrer Ansicht nach – „psychischen Krankheit“. Das entspricht selbstverständlich nicht der Wahrheit, da es natürlich nicht möglich ist, die Geschlechtsidentität einer Person zu verändern. So genannte Reparativ- oder Konversionstherapien führen lediglich zu einem Gefühl der Selbstverachtung bei der betroffenen Person, so dass diese sich noch depressiver fühlt, was in einigen Fällen suizidale Gedanken oder sogar Selbstmord zur Folge haben kann.

Meine Botschaft an Trans*-Menschen und Aktivist*innen in Ungarn: Gebt nicht auf! Es braucht jedoch internationale Unterstützung und Solidarität, um diesem Gesetz entgegenzutreten!

An Trans*-Menschen: Es ist noch nicht vorbei! Haben wir eine wichtige Schlacht verloren? Ja, das haben wir. Aber es kann nicht für immer andauern. Keine Unterdrückung dauert für immer an. Wir haben zwar die Schlacht verloren, aber den Krieg werden wir gewinnen. Also gebt nicht auf! Wenn ihr das Gefühl habt, aufgeben zu müssen, dann fragt bitte um Hilfe, ruft eine Helpline bzw. eine Freundin oder einen Freund an. Doch ich bitte euch inständig, tut euch selbst nichts an, denn ihr seid nicht alleine! Wir kämpfen für euch, und wir werden so lange kämpfen, bis die grundlegenden Menschrechte jedes Menschen auf diesem Planeten – egal ob trans, homosexuell oder Mitglied einer ethnischen oder religiösen Minderheit – garantiert sind.

An Aktivist*innen: Ihr seid Held*innen. Jede und jeder Einzelne von euch; selbst wenn ihr nur eine einzige Stunde eures Lebens für den Menschenrechtsaktivismus aufwendet, seid ihr in meinen Augen Held*innen, denn ihr habt ein Stück eures wertvollen Lebens für andere geopfert. Also unterstützt bitte die Aktionen von Amnesty International, um dieses Verbot der legalen Anerkennung von Trans*-Personen und dessen furchtbare Auswirkungen zu stoppen.

An Verbündete: Wir brauchen euch jetzt mehr denn je. Minderheiten sind immer auf die Unterstützung von Menschen außerhalb ihrer Gruppe angewiesen, das gilt umso mehr für eine so kleine und gefährdete Gruppe wie Trans*-Menschen. Es gibt viel, was ihr für uns tun könnt:

  • Informiert euch über Trans*-Themen, denn selbst unsere Verbündeten haben nur ein eingeschränktes Wissen, was unsere Probleme anbelangt. Selbst wenn ihr meint, über ein grundlegendes Wissen zu verfügen, sucht nach Trans*-Aktivist*innen, die ihre Erfahrungen mit euch teilen, damit eure Unterstützung möglichst effektiv ist.

  • Stärkt das allgemeine Bewusstsein und informiert andere. Die meisten Menschen haben keine Ahnung wer Trans*-Menschen sind, oder – noch schlimmer – vertreten eine Meinung über Trans*-Personen, die nicht auf Tatsachen beruht, sondern auf Lügen, die von transphoben Gruppen verbreitet wurden. Wir Trans*-Aktivist*innen können nur mit einer eingeschränkten Menge an Personen sprechen und sind ohne eure Hilfe nicht in der Lage, einen größeren Teil der Bevölkerung zu erreichen. Die meisten Trans*-Menschen haben Angst, sich öffentlich zu outen, was bedeutet, dass nur ganz wenige von uns an Debatten teilhaben können. Also nehmt ihr an Debatten für uns teil und berichtet anderen das, was ihr von uns erfahren habt.

  • Wenn ihr Trans*-Freund*innen habt, dann fragt sie, wie es ihnen geht. Hört ihnen zu, ohne zu urteilen oder Ratschläge zu erteilen. Seid einfach nur die Person, die ihnen zuhört, sie versteht und sie umarmt, wenn sie es am dringendsten brauchen. Wenn ihr keine Trans*-Freund*innen habt, dann sucht online und offline nach Trans*-Gruppen und bietet eure Unterstützung an.

Ivett, Transfrau und Aktivistin aus Ungarn

Ungarn: Trans*-Rechte sind Menschenrechte

Unterstütze jetzt unseren Appell an die ungarische Regierung!

Antikriegsaktion: Russische Künstlerin in Haft!

Jetzt helfen