Loading...
© Amnesty International

news © Amnesty International

Amnesty-Bericht dokumentiert Tötungen und Massenvertreibungen von Zivilist*innen im Südsudan

9. Dezember 2021

Zusammenfassung

  • Amnesty führte erste menschenrechtliche Untersuchung der jüngsten Welle der Gewalt im Bundesstaat Western Equatoria durch
  • Dutzende Zivilpersonen getötet und mehr als 80.000 Menschen vertrieben
  • Politiker*innen schüren ethnische Spannungen und entsetzliche Gewalt
  • Regierung muss Versorgung der Vertriebenen sicherstellen und Verantwortliche für mögliche Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen, fordert Amnesty

Bei Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen im Bundesstaat Western Equatoria (West-Äquatoria) wurden von Juni bis Oktober dieses Jahres Dutzende Zivilpersonen getötet, und Zehntausende vertrieben. Zu diesem Ergebnis kommt Amnesty International nach einer Recherche und der Befragung von zahlreichen Überlebenden.

Im Bezirk Tambura kam es zu Zusammenstößen zwischen konkurrierenden lokalen Gruppen, die einerseits mit den Streitkräften des Südsudan (SSPDF) und andererseits mit der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung In Opposition (SPLM-IO) verbündet sind.

In der ersten detaillierten Menschenrechtsanalyse dieses Konflikts dokumentierte Amnesty International mögliche Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen, die von allen Konfliktparteien an Angehörigen der Azande- und Balanda-Gemeinschaften begangen wurden, welche zuvor über Generationen hinweg in Harmonie miteinander gelebt und durch Ehen mit Angehörigen der jeweils anderen Gemeinschaft verbunden waren.

Seit Politiker*innen den ethnischen Hass geschürt und die Jugend zum Kampf mobilisiert haben, gibt es Tod, Zerstörung und Spaltung.

Deprose Muchena, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International

„Die Zeug*innenaussagen, die wir eingeholt haben, sprechen von unvorstellbarer Gewalt. Beispielsweise wurden Zivilpersonen auf der Flucht getötet und Leichen in Brand gesteckt und verstümmelt“, sagt Deprose Muchena, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International, und sagt weiter: „Die Tatsache, dass an den Angriffen nicht nur lokale Gruppen beteiligt waren, sondern auch Kämpfer*innen, die die Regierung bzw. die Opposition unterstützen, zeigt, dass es sich um weit mehr als nur um Gewalt zwischen ethnischen und religiösen Gruppen handelt.“

Amnesty International befragte 76 Personen, darunter Binnenvertriebene, humanitäre Helfer*innen, Regierungsangehörige und Aktivist*innen. 50 davon waren Angehörige der Gemeinschaften der Azande und Balanda oder ethnisch gemischte Überlebende, die in Wau, Yambio und Tambura, dem früheren Epizentrum der Gewalt, Zuflucht gefunden hatten.

Entführungen und rechtswidrige Tötungen

Die Überlebenden berichteten, wie sie wegen stundenlangem wahllosem Beschuss und weil ganze Stadtteile in Brand gesetzt wurden, flüchten mussten. Dreizehn Zeug*innen, von denen einige kurzzeitig entführt worden waren, berichteten von Vorfällen, bei denen Kämpfer*innen beider Seiten Menschen kurzerhand erschossen oder ihnen die Kehle durchgeschnitten haben. Gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und die Ermordung von Gefangenen sind Kriegsverbrechen.

Nach Angaben der örtlichen Behörden wurden rund 300 Menschen getötet.

Eine 20-jährige Angehörige der Balanda-Gemeinschaft schilderte, wie drei bewaffnete, Azande sprechende Männer, die Gesichtsbedeckungen trugen, am 2. September nachts in ihrem Haus in der Stadt Tambura auftauchten. Sie töteten ihren 27-jährigen Ehemann, während sie und ihre dreijährige Tochter zusehen mussten. „Ich, mein Mann und mein Kind schliefen... Einer von ihnen kam herein und zerrte meinen Mann nach draußen... Sie setzten ihn neben die Tür und erschossen ihn... vor meinen Augen. Ich sah, wie mein Mann zu Boden fiel“, sagte sie gegenüber Amnesty International.

Eine weitere Zeugin erzählte, wie Kämpfer*innen im August in Mupoi die Leiche ihres Bruders verbrannten, nachdem sie ihn enthauptet hatten. Ihr Mann und drei ihrer Kinder waren Wochen zuvor entführt und getötet worden.

Die Überlebenden gaben an, dass einige ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität zurückgelassen und getötet wurden. Ein*e Zeug*in beschrieb, wie bewaffnete Männer eine psychisch kranke Frau zu Tode prügelten, bevor sie ihren Leichnam in Brand steckten.

Ernte und Gesundheitseinrichtungen zerstört und geplündert

Die meisten der Befragten gaben an, dass ihre Häuser geplündert oder niedergebrannt wurden. Aufgrund der unsicheren Situation konnten sie die Ernte nicht einholen, obwohl viele von ihnen allein von der Landwirtschaft leben. Von Amnesty International ausgewertete Satellitenaufnahmen zeigen, dass zwischen Juni und Oktober zahlreiche Gebäude im ganzen Land beschädigt oder zerstört wurden. Dies betrifft unter anderem die Orte Tambura und Mupoi, einschließlich des Umlands, sowie die Gegend um Source Yubu.

Bewaffnete Männer haben auch völkerrechtswidrig Gesundheitseinrichtungen geplündert und gebrandschatzt, was die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung massiv beeinträchtigte. Eine leitende Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation berichtete Amnesty International im November, dass 13 der 20 medizinischen Einrichtungen im Bezirk Tambura durch Vandalismus unbrauchbar gemacht worden waren und auch die anderen „kaum funktionsfähig“ seien.

Ein anderer humanitärer Helfer erklärte, dass zum Zeitpunkt des Interviews im November nur acht der 53 Schulen im Bezirk geöffnet waren.

Vertriebene leben unter unhaltbaren Zuständen in Lagern und brauchen dringend Hilfe

Nach von den Vereinten Nationen überprüften Regierungsangaben wurden durch die Kämpfe mehr als 80.000 Menschen vertrieben. Einige von ihnen sind in provisorischen Unterkünften in Tambura untergebracht; darunter eine Kirche und ein von UN-Friedenstruppen geschütztes Lager, das Amnesty International besuchte. Andere flohen bis in die südlich gelegene Landeshauptstadt Yambio, wieder andere bis in den Norden nach Wau, die Hauptstadt des Bundesstaates Western Bahr el Ghazal. Dabei waren sie oft zwischen drei und zehn Tagen unterwegs.

Die Vertriebenen berichteten von unhaltbaren Zuständen sowohl in den beiden Lagern als auch in anderen Unterkünften. Es gebe weder ausreichend Lebensmittel noch Medikamente. Diese Aussagen wurden von den Mitarbeiter*innen von Amnesty International nach ihrem Besuch vor Ort bestätigt. Die große Mehrheit der Betroffenen gab an, dass sie entweder gar keine humanitäre Hilfe oder nur eine einmalige 15-Tage-Ration an Grundnahrungsmitteln erhalten hätten.

Die Überlebenden sagten, dass sie trotz der Ankündigung, dass die Kämpfe beendet seien, weiterhin Angst vor den verbleibenden Kämpfer*innen hätten. Auch Politiker*innen, die die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen weiter schürten, seien nach wie vor eine Bedrohung. Außerdem betonten sie, dass sie ja gar nichts mehr hätten, wohin sie zurückkehren könnten, da ihre Häuser, Grundstücke und Ernten zerstört seien. Viele betonten ihren dringenden Bedarf an schneller Hilfe, einschließlich psychosozialer Unterstützung.

„Die Regierung muss ihre Wiederaufbaubemühungen sowie die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen und Hilfsangebote für die Vertriebenen beschleunigen. Sie muss entsprechende Bedingungen schaffen, damit die Betroffenen sicher, freiwillig und dauerhaft zurückkehren können“, sagt Deprose Muchena.

Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden.

Deprose Muchena, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International

„Die Gewalt in Western Equatoria ist eine weitere deutliche Erinnerung daran, dass im Südsudan ein umfassender Rechenschaftsprozess notwendig ist. Dieser muss die Punkte Wahrheitsfindung, Reformen und Entschädigung sowie die Zusammenarbeit mit der Kommission der Afrikanischen Union zur Einrichtung eines Hybrid-Gerichts für den Südsudan umfassen. In der Zwischenzeit muss der UN-Sicherheitsrat sein Waffenembargo aufrechterhalten, um den Zustrom von Waffen an die Konfliktparteien einzudämmen.“

Hintergrund des Konflikts

Die jüngste Gewalt in Western Equatoria geht auf die Zuweisung des Bundesstaates an die Sudanesische Volksbefreiungsbewegung in Opposition (SPLM-IO) im Mai 2020 zurück, die Teil eines Abkommens über die Machtaufteilung zwischen den Parteien des Friedensabkommens von 2018 war. Die anschließende Ernennung eines Gouverneurs durch den Ersten Vizepräsidenten Riek Machar verärgerte wichtige Vertreter*innen der politischen Elite der Azande-Gemeinschaft.

Trotz der Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit Anfang 2020 hält die Gewalt in verschiedenen Gebieten des Südsudan an, wobei die Konfliktparteien und die mit ihnen verbündeten lokalen Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Wichtige Bestimmungen des Friedensabkommens – darunter auch einige zu den Bereichen Rechenschaftspflicht und Sicherheit – sind nach wie vor nicht umgesetzt.

Menschen auf der Flucht

Mehr dazu