„Der Begriff der Street Art ist relativ neu. Er wird seit den 2000er Jahren benutzt und ist ein Sammelbegriff, der zwei Kunstformen vereint: Graffiti und Wandmalerei“, sagt Lisa Bogerts vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. Graffiti entwickelte sich in den 1960er und 70er Jahren in New York und Philadelphia, wo zunächst vor allem schriftbasierte Botschaften verbreitet wurden. „Das war einerseits eine Jugendkultur: Man hinterließ seinen Namen und markierte sein Revier. Gleichzeitig war es eine politische Ausdrucksform, da sich vor allem marginalisierte Gruppen, Schwarze und Latino-Jugendliche mit ihren Graffitis Sichtbarkeit verschaffen wollten“, so Bogerts.
Wandmalerei hingegen sei ursprünglich keine Protestform gewesen, sondern eine Herrschaftspraxis, die von Königshäusern und der katholischen Kirche im großen Stil genutzt wurde. Sie veränderte sich erst im 20. Jahrhundert. „Nachdem die Wandmalerei nach der mexikanischen Revolution 1910 zwar schon sozialkritisch, aber noch sehr staatstragend war, bekam sie in anderen lateinamerikanischen Ländern ab Mitte des Jahrhunderts einen widerständigeren Charakter. Besonders in den Diktaturen in Chile und Argentinien gab es viel Protestmalerei.“
Sinnlicher Zugang zu Politik
Street Art als Protestform trägt Widerspruch in den öffentlichen Raum. Sie kann das gesellschaftliche Bewusstsein schärfen, indem sie Menschen für politische oder soziale Themen sensibilisiert, die diese sonst nicht aktiv verfolgen. „Bilder ermöglichen uns einen anderen Zugang zur Welt als Worte und politische Pamphlete“, sagt Lisa Bogerts. „Sie verbinden logische Argumente mit affektiver Überzeugungskraft, sie lassen uns etwas sinnlich erfahren. Bilder können beeinflussen, wie wir Politik wahrnehmen, ob wir sie für legitim halten oder nicht.“
In Konfliktgebieten werden Kunstwerke der Street Art oft zu Symbolen des Widerstands, die Menschen Mut machen, sich gegen Unterdrückung zu wehren. So machte der jemenitische Künstler Murad Subay die von Raketen und Gewehrfeuer zerstörten Fassaden seiner Heimat zu seinen Leinwänden. „Ich wollte zeigen, dass es an diesen Orten Kunst gibt, dass es Hoffnung gibt, dass die Menschen auch in einem sehr düsteren Moment, in dem ein Land über seine Geschichte entscheidet, noch kämpfen“, sagte er in einem Interview.
Trotz aller Aufmerksamkeit, die Street Art erzeugen kann, bleibt sie ein flüchtiges Phänomen. Kunstwerke werden durch neue ersetzt, Fassaden verschwinden, weil Häuser abgerissen oder zerbombt werden, oft lassen Regime die Bilder auch übertünchen. „In der Allgemeinheit wird Protest häufig nur dann als erfolgreich empfunden, wenn er die Politik verändert“, sagt Lisa Bogerts. „Aber auch Street Art, die nicht fotografiert und verbreitet wird, kann eine Wirkung entfalten. Weil sie bei der lokalen Bevölkerung Bewusstsein für ein Problem schafft.“ Paradoxerweise kann Street Art sogar erfolgreich sein, wenn sie der Zensur zum Opfer fällt: „In dem Moment, in dem ein Bild zensiert wird, hat es eine gewisse Bedrohung oder Angst bei den Machthabern ausgelöst“, erklärt Bogerts.