
Auf der Suche nach den Toten
7. Mai 2025Aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Mai 2025
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad im Dezember 2024 fordern die Angehörigen von bis zu 200.000 Verschwundenen, dass deren Schicksal aufgeklärt wird. Während die Hoffnung auf Überlebende schwindet, hat die Suche nach den Toten begonnen.
Von Hannah El-Hitami
„Wie wertvoll ist doch die Freiheit“, dachte Yasmin al-Mashaan, als sie am 8. Dezember 2024 die Videos der Gefangenen sah, die das Saydnaya-Gefängnis in der Nähe von Damaskus verließen. Es war drei Uhr morgens, die ganze Nacht hatte sie mit ihren Kindern vor dem Fernseher und im Internet verbracht, um den Sturz Assads zu verfolgen. Die Befreiung des Saydnaya-Gefängnisses, von Amnesty International einst als „Schlachthaus für Menschen“ bezeichnet, markierte für sie das Ende des Regimes. „Das war ein toller Moment“, erinnert sie sich bei einem Gespräch in ihrer Wohnung im sächsischen Crimmitschau wenige Tage später.
Am nächsten Tag folgte die Ernüchterung: Nur wenige tausend Menschen konnten Saydnaya und andere Haftanstalten des Landes lebend verlassen – und das bei schätzungsweise 200.000 Vermissten, von denen die meisten nach der Inhaftierung verschwanden. Als Aya Majzoub, die Amnesty-Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika, Damaskus im Dezember besuchte, berichtete sie von Familien, die in Krankenhäusern, Leichenhallen und Gefängnissen verzweifelt nach ihren Angehörigen suchten.
Zehntausende bleiben vermisst. So viel Schmerz. Für die meisten Familien gibt es nicht die Antworten, nach denen sie sich sehnen.
Aya Majzoub, Amnesty-Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika
Al-Mashaan hat fünf ihrer sechs Brüder verloren. Einen entführte der Islamische Staat (IS), vier tötete die syrische Regierung. Für sie, wie für Zehntausende weitere Angehörige von Getöteten und Verschwundenen, bedeutet der Sturz Assads vor allem eines: die Chance, endlich Klarheit darüber zu bekommen, was mit ihren Kindern, Eltern, Geschwistern und Freund*innen passiert ist. Auch wenn sie inzwischen davon ausgehen müssen, dass die meisten tot sind, endet ihre Suche nicht. „Mittlerweile fragen die Angehörigen: Wo sind die sterblichen Überreste?“, sagt Al-Mashaan.
Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen jedoch, dass es Jahrzehnte dauern kann, bis sich diese Frage beantworten lässt. In Syrien wird diese riesige Aufgabe erschwert durch die wirtschaftlich prekäre Lage nach 13 Jahren Krieg und die Ungewissheit über die politische Zukunft des Landes. „Die hohe Zahl der Vermissten ist eine der größten Herausforderungen“, sagt Mazin al-Balkhi, der bei der Internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP) für Syrien zuständig ist. Verschwunden sind nicht nur die, die vom Assad-Regime bei Demonstrationen festgenommen oder zu Hause abgeholt wurden. Auch der IS und militärische Oppositionsgruppen wie die Freie Syrische Armee, die kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte oder die nun regierende islamistische Hay’at Tahrir al-Scham ließen Menschen verschwinden. Ihr Anteil sei aber vergleichsweise gering: „Das Regime soll für 95 Prozent der Verschwundenen verantwortlich sein“, stellt al-Balkhi fest. Hinzu kommen Personen, die bei dem schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei 2023 oder auf der Flucht nach Europa gestorben sind und deren Leichen nicht gefunden wurden.
„Die Gefangenen, die systematisch getötet und in Massengräbern begraben wurden, sind vielleicht noch die eindeutigsten Fälle“, glaubt al-Balkhi. Besonders schwierig werde die Identifizierung von Zivilpersonen, die willkürlich an Checkpoints erschossen wurden.
Die Sicherheitskräfte hatten entsprechende Anweisungen des Regimes. Aber sie dokumentierten nicht, wen sie töteten. Sie erschossen die Menschen einfach und verscharrten sie unter der Erde.
Mazin al-Balkhi, Internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP) für Syrien
In den vergangenen sieben Jahren gingen bei der ICMP Hinweise auf 72 Massengräber in Syrien ein. Insgesamt könnten es Tausende sein, fürchtet al-Balkhi. Er war bereits in Damaskus, um mit der Übergangsregierung und anderen Akteur*innen über Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu sprechen. Entscheidend ist aus seiner Sicht, dass sich jetzt alle Beteiligten koordinieren.
DNA allein ist keine Lösung
Für die vielen syrischen Familien, die die Hoffnung auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen aufgegeben haben, ist entscheidend, dass die Massengräber geöffnet und die Toten identifizieret werden, um sie endlich angemessen bestatten zu können. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. „Bevor wir ein Grab öffnen, müssen wir den Kontext ermitteln“, erklärt Luis Fondebrider. Der forensische Anthropologe war in den vergangenen 40 Jahren in zahlreichen Ländern an der Wahrheitsfindung nach Kriegen oder Massengewalt beteiligt. DNA-Tests allein seien keine Lösung, wenn über einen so langen Zeitraum so viele Menschen verschwinden wie in Syrien, erklärt Fondebrider. Proben von allen Familien der Verschwundenen mit allen auffindbaren Leichen zu vergleichen, sei finanziell und zeitlich nicht leistbar. Bevor man an einem Massengrab arbeite, benötige es zunächst „eine Theorie, wann die Menschen dort begraben worden und wer sie sein könnten“.
In Syrien ist bekannt, dass die Toten aus bestimmten Haftanstalten zu bestimmten Friedhöfen oder Massengräbern gebracht wurden. Nun gilt es weitere Beweismittel zu sammeln, sagt Fondebrider: Dokumente, Videos, Fotos, Aussagen von Zeug*innen und Informationen von Angehörigen. Bis dahin sollten die Toten in den Gräbern verbleiben, um zu verhindern, dass Überreste durcheinander gerieten oder wichtige Informationen verloren gingen. „Wenn ein Körper in einem Grab liegt und dieses Grab geschützt wird, ist es egal, wie viel Zeit vergeht.“ Dass die Übergangsregierung die Massengräber absichere, sei jetzt die dringendste Maßnahme.
Fondebriders wohl wichtigste Lehre aus seiner Arbeit in Bosnien, Argentinien, dem Irak und vielen anderen Ländern ist, dass die Familien der Opfer von Anfang an in alle Vorgänge einbezogen werden müssen. „Das ist wichtig für die Glaubwürdigkeit.“ Wenn der forensische Anthropologe an einem Massengrab arbeitet, sitzen Angehörige der Verschwundenen oft ein paar Meter entfernt. Immer wieder unterbricht er seine Arbeit, um ihnen zu erklären, was er tut. Er nimmt sie mit in die Leichenhalle und zeigt ihnen, dass er respektvoll mit den Überresten der Toten umgeht.
Es ist entscheidend, dass sie informiert bleiben. Doch leider werden sie in den meisten Fällen nur einbezogen, um DNA-Proben abzugeben und für Fotos zu posieren.
Luis Fondebrider, forensischer Anthropologe
Dass die Suche nach den Verschwundenen ohne sie stattfindet, werden Yasmin al-Mashaan und ihre Mitstreiter*innen nicht zulassen. Die Angehörigen der syrischen Verschwundenen haben bereits vor Jahren zahlreiche Organisationen in der Diaspora gegründet. So schlossen sich zum Beispiel Al-Mashaan und andere Betroffene 2021 in der „Truth and Justice Charter“ (Wahrheits- und Gerechtigkeitscharta) zusammen. Im Januar kritisierten sie in einem offenen Brief, dass die Übergangsregierung bisher keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen habe, und forderten, dass man mit ihnen kommuniziere, ihren Forderungen zuhöre und von ihrer Expertise profitiere. Zudem drängten sie darauf, dass die Übergangsregierung die Haftanstalten sichert und als Tatorte behandelt. Denn in den Gefängnissen, aber auch in Gerichten und Behörden lagern entscheidende Beweismittel. Auch Massengräber müssten geschützt werden, „bis es einen gemeinsamen Plan für den Umgang mit ihnen gibt, der die Menschenwürde (…) garantiert“. Die Suche nach den Verschwundenen müsse für die Übergangsregierung höchste Priorität haben: „Sie ist eine Grundlage für Gerechtigkeit und Frieden im neuen Syrien.“
Hannah El-Hitami arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt unter anderem für den SPIEGEL, die taz und dis:orient.
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