DNA allein ist keine Lösung
Für die vielen syrischen Familien, die die Hoffnung auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen aufgegeben haben, ist entscheidend, dass die Massengräber geöffnet und die Toten identifizieret werden, um sie endlich angemessen bestatten zu können. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. „Bevor wir ein Grab öffnen, müssen wir den Kontext ermitteln“, erklärt Luis Fondebrider. Der forensische Anthropologe war in den vergangenen 40 Jahren in zahlreichen Ländern an der Wahrheitsfindung nach Kriegen oder Massengewalt beteiligt. DNA-Tests allein seien keine Lösung, wenn über einen so langen Zeitraum so viele Menschen verschwinden wie in Syrien, erklärt Fondebrider. Proben von allen Familien der Verschwundenen mit allen auffindbaren Leichen zu vergleichen, sei finanziell und zeitlich nicht leistbar. Bevor man an einem Massengrab arbeite, benötige es zunächst „eine Theorie, wann die Menschen dort begraben worden und wer sie sein könnten“.
In Syrien ist bekannt, dass die Toten aus bestimmten Haftanstalten zu bestimmten Friedhöfen oder Massengräbern gebracht wurden. Nun gilt es weitere Beweismittel zu sammeln, sagt Fondebrider: Dokumente, Videos, Fotos, Aussagen von Zeug*innen und Informationen von Angehörigen. Bis dahin sollten die Toten in den Gräbern verbleiben, um zu verhindern, dass Überreste durcheinander gerieten oder wichtige Informationen verloren gingen. „Wenn ein Körper in einem Grab liegt und dieses Grab geschützt wird, ist es egal, wie viel Zeit vergeht.“ Dass die Übergangsregierung die Massengräber absichere, sei jetzt die dringendste Maßnahme.
Fondebriders wohl wichtigste Lehre aus seiner Arbeit in Bosnien, Argentinien, dem Irak und vielen anderen Ländern ist, dass die Familien der Opfer von Anfang an in alle Vorgänge einbezogen werden müssen. „Das ist wichtig für die Glaubwürdigkeit.“ Wenn der forensische Anthropologe an einem Massengrab arbeitet, sitzen Angehörige der Verschwundenen oft ein paar Meter entfernt. Immer wieder unterbricht er seine Arbeit, um ihnen zu erklären, was er tut. Er nimmt sie mit in die Leichenhalle und zeigt ihnen, dass er respektvoll mit den Überresten der Toten umgeht.