New York, 2012: Occupy-Wall-Street-Aktivist*innen halten vor einem Protestmarsch ihre Fäuste im Kreis zusammen. © Andrew Burton / Reuters / picturedesk.com
New York, 2012: Occupy-Wall-Street-Aktivist*innen halten vor einem Protestmarsch ihre Fäuste im Kreis zusammen. © Andrew Burton / Reuters / picturedesk.com
aus dem magazin

Alltäglicher Anarchismus

9. Mai 2025

Aus dem Amnesty Magazin, Ausgabe Mai 2025

Was bedeutet es, Anarchist*in zu sein? Für viele ruft der Begriff Bilder von Chaos, Gesetzlosigkeit und Unordnung hervor. Die Historikerin und Philosophin Sophie Scott-Brown argumentiert, dass es beim Anarchismus jedoch nicht um Zerstörung geht, sondern um einen fortlaufenden Prozess der Infragestellung von Autorität und der Förderung kollektiver Entscheidungsfindung.

Von Antonio Prokscha

„Anarchismus ist keine klassische Ideologie wie Sozialismus oder Liberalismus “, erklärt Sophie Scott-Brown, Historikerin und Philosophin an der University of St Andrews in England. „Er sagt nicht, was er will, sondern was er nicht will: eine dauerhafte, unkontrollierte Autorität.“

Während politische Ideologien oft eine fertige Utopie skizzieren, bleibt Anarchismus ein dynamischer Prozess mit offenem Ende. „Er liefert keine Blaupause für die perfekte Gesellschaft“, so Scott-Brown. 

Vielmehr ist es ein Weg, der immer wieder hinterfragt und an neue Herausforderungen angepasst wird. Sobald eine Struktur erstarrt, ist der anarchistische Impuls, sie zu überdenken und neu zu gestalten.

Sophie Scott-Brown, Historikerin und Philosophin an der University of St Andrews in England

Organisation ohne Hierarchie

Eines der gängigsten Vorurteile ist, dass Anarchismus gleichbedeutend mit Unordnung sei. Tatsächlich beruht er auf dezentraler Entscheidungsfindung und freiwilliger Kooperation. Beispiele gibt es viele – von basisdemokratischen Aktivist*innen-Netzwerken bis hin zu selbstverwalteten Gemeinschaften, die ohne zentrale Führung funktionieren.

Die Protestbewegung Occupy Wall Street etwa zeigte, dass Organisation auch ohne Hierarchie möglich ist. Trotz Kritik an ihrer fehlenden Agenda zeichnete sie sich durch basisdemokratische Entscheidungsprozesse aus. „Die Menschen wussten, wogegen sie waren – wirtschaftliche Ungleichheit, Konzernmacht. Doch anstatt eine starre Agenda vorzugeben, schufen sie einen Raum für kollektive Diskussionen und Experimente“, so Scott-Brown.

Anarchistische Prinzipien beschränken sich nicht auf politische Bewegungen; sie prägen auch den Alltag. „Jedes Mal, wenn eine Gruppe zusammenkommt, um ein Problem zu lösen, ohne einen Präsidenten oder Anführer zu ernennen, praktiziert sie Anarchismus“, argumentiert Scott-Brown, „Das passiert die ganze Zeit, ob wir es nun so nennen oder nicht. Von Nachbarschaftsinitiativen bis hin zu Genossenschaften am Arbeitsplatz – das sind Beispiele aus der realen Welt für gelebten Anarchismus.“

Autorität und ihre Grenzen

Zentral im anarchistischen Denken ist die kritische Auseinandersetzung mit Autorität.

Autorität hat nicht nur mit Regierungen oder der Polizei zu tun – sie manifestiert sich im täglichen Leben durch soziale Normen, Wirtschaftssysteme und sogar Traditionen. Die anarchistische Perspektive fordert dazu auf, solche Strukturen zu hinterfragen: Dienen sie den Menschen? Wenn nicht, wie lassen sie sich verändern?

Sophie Scott-Brown, Historikerin und Philosophin an der University of St Andrews in England

Gerade in einer Zeit, in der viele das Vertrauen in politische Institutionen verlieren, sieht Scott-Brown hier einen wichtigen Ansatz: „Unsere derzeitigen Institutionen wurden für eine andere Ära entworfen. Viele Menschen haben kein Vertrauen mehr in sie, und anstatt nach neuen Führern zu suchen, die die Dinge in Ordnung bringen, schlägt der Anarchismus vor, dass wir die Verantwortung für die Gestaltung unserer eigenen Gemeinschaften übernehmen.“

Sie betont, dass Anarchismus davon handelt, einen ständigen Prozess der Kritik und Anpassung aufrechtzuerhalten. „Im Anarchismus geht es nie um eine endgültige Lösung. Es geht immer um den Prozess des Kampfes für die Freiheit. Die Ironie ist, dass man sie in dem Moment, in dem man sagt, dass man sie erreicht hat, verloren hat“.

Anarchismus bedeutet nicht, alle Regeln abzuschaffen, sondern sicherzustellen, dass die Macht nicht allumfassend wird und dass die Menschen frei bleiben, ihre Gemeinschaften nach ihren Bedürfnissen umzugestalten, schließt Scott Brown. „Es ist keine festgelegte Ideologie, es ist ein fortlaufender Prozess.“

Unsere derzeitigen Institutionen wurden für eine andere Ära entworfen. Viele Menschen haben kein Vertrauen mehr in sie, und anstatt nach neuen Führern zu suchen, die die Dinge in Ordnung bringen, schlägt der Anarchismus vor, dass wir die Verantwortung für die Gestaltung unserer eigenen Gemeinschaften übernehmen.

Sophie Scott-Brown, Historikerin und Philosophin an der University of St Andrews in England

Antonio Prokscha ist Teil der Amnesty Redaktion.

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