2008 wurde Melissa Lucio von einem texanischen Geschworenengericht des Mordes an ihrer zweijährigen Tochter für schuldig befunden. Der Gerichtsmedizinerin zufolge, die die Autopsie durchführte, starb das Kind an einer Hirnblutung, verursacht durch durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf. Trotz der medizinischen Vorgeschichte des Kindes, zu der auch Schwierigkeiten beim Gehen und wiederholte Stürze gehörten, schloss die Gerichtsmedizinerin aus, dass die Kopfverletzungen die Folge eines Treppensturzes zwei Tage zuvor gewesen sein könnten, wie Melissa Lucio angab. Durch neue Sachverständigengutachten wird die Aussage der Gerichtsmedizinerin ernsthaft in Frage gestellt.
Die Anklage stützte sich vor allem auf Videos der Vernehmung von Melissa Lucio, die am ersten Prozesstag als Beweis zugelassen und den Geschworenen vorgespielt wurde. Das Verhör begann kurz nachdem Mariah am Abend des 17. Februar 2007 für tot erklärt worden war. Die mit Zwillingen schwangere Melissa Lucio, die unter Schlafentzug litt, von ihrer Familie isoliert war und auf ihr Recht auf einen Rechtsbeistand verzichtet hatte, wurde von fünf Vernehmungsbeamt*innen (vier Männern und einer Frau) verhört. Nach einem fünfstündigen Verhör, das bis in die frühen Morgenstunden des 18. Februar 2007 dauerte und in dem sie mehr als 100 Mal beteuert hatte, dass sie ihrer Tochter niemals einen Schlag auf den Kopf versetzt hatte, machte Melissa Lucio belastende Aussagen, die von der Staatsanwaltschaft im Prozess als umfassendes "Geständnis" dargestellt wurden: "Ich glaube, ich habe es getan. Ich schätze, ich habe es getan", und: "Was soll ich denn sagen? Ich bin dafür verantwortlich."
Die Verteidigung wollte zwei Sachverständige vorladen, die den Geschworenen hätten erklären können, was Melissa Lucio dazu gebracht haben könnte, ein derartiges "Geständnis" abzulegen, auch wenn sie nicht für den Tod ihrer Tochter verantwortlich war. Einer von ihnen, ein Psychologe, hätte ausgesagt, dass die traumatische Geschichte der Angeklagten mit emotional, körperlich und sexuell missbräuchlichen Beziehungen zu Männern sie anfällig dafür gemacht habe, in einem Verhör Schuld auf sich zu nehmen. Ein US-Bundesrichter formulierte das 2021 so: "Diese Realität bildet eine starke Grundlage für Melissa Lucios angebliche Verweigerung einer umfassenden Verteidigung: dass sie nur versuchte, die Schuld für die Taten anderer auf sich zu nehmen, ein Persönlichkeitsphänomen, das durch ihren eigenen lebenslangen Missbrauch in einer Welt bitterer Armut entstanden ist."
Die damalige Richterin entschied jedoch, dass entsprechende Aussagen von Sachverständigen für die Frage der Schuld oder Unschuld irrelevant seien. Diese Entscheidung lief darauf hinaus, dass das Argument ihrer Verteidigung, sie habe ein falsches Geständnis abgelegt und sei unschuldig, schlichtweg abgewiesen wurde. Amnesty International ist der Ansicht, dass allein mit dieser Entscheidung gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens nach dem Völkerrecht verstoßen wurde. Dadurch wurde die Unschuldsvermutung untergraben, der Grundsatz der "Waffengleichheit" verletzt und der Angeklagten die Möglichkeit verweigert, die zentralen Beweise der Staatsanwaltschaft gegen sie mit allen Mitteln anzufechten.
Im Berufungsverfahren stieß Melissa Lucio auf verfahrenstechnische Hürden durch das "Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus und zur effektiven Durchsetzung der Todesstrafe" (Antiterrorism and Effective Death Penalty Act – AEDPA). Dieses Gesetz von 1996 schränkt die gerichtliche Überprüfung bundesstaatlicher Gerichtsentscheidungen ein, um Hinrichtungen zu beschleunigen. Der UN-Sachverständige für die Todesstrafe erklärte 1998, dass das AEDPA "die Umsetzung des Rechts auf ein faires Verfahren weiter gefährdet" habe. Im Fall von Melissa Lucio entschied ein Dreiergremium des zuständigen US-Berufungsgerichts, dass das erstinstanzliche Gericht ihr das verfassungsmäßige Recht vorenthalten habe, sich angemessen zu verteidigen. Der Bundesstaat Texas legte Berufung ein und beantragte eine erneute Anhörung vor dem gesamten Gericht mit 17 Richter_innen. Sieben Richter_innen wiesen darauf hin, dass "der Bundesstaat keine physischen Beweise oder Zeugenaussagen vorgelegt hat, die direkt belegen würden, dass Melissa Lucio Mariah oder eines ihrer anderen Kinder missbraucht, geschweige denn Mariah getötet hat". Sie argumentierten, dass der Ausschluss der Expertengutachten durch die zuständige Richterin fehlerhaft war und die Billigung dieses Vorgehens durch das Berufungsgericht des Bundesstaates eine eindeutig unangemessene Anwendung des Präzedenzfalls des Obersten Gerichtshofs der USA darstellte, und somit der Rechtsschutz auf Bundesebene nicht durch das AEDPA eingeschränkt werden könne. Zehn Richter_innen entschieden jedoch, dass der Fall von Melissa Lucio den strengen Bestimmungen des AEDPA unterliege. Drei dieser zehn Richter_innen erkannten jedoch an, dass die ausgeschlossenen Aussagen "Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Melissa Lucios Geständnis hätte aufkommen lassen können", dass die abweichende Meinung "die faktische Notwendigkeit aufgezeigt hat, dass die Geschworenen diese Zeugenaussagen hören müssen", und dass dieser Fall ein "klares Beispiel dafür ist, dass die Gerechtigkeit gegenüber einem Angeklagten eine umfassendere Überprüfung der von bundesstaatlichen Gerichte gefällten Beweisurteile erfordern kann, als derzeit zulässig ist".
Die USA haben den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) im Jahr 1992 ratifiziert. Die Hinrichtung einer Person, der das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 14 des Pakts verweigert wird, stellt eine willkürliche Entziehung des Lebens dar. Der UN-Menschenrechtsausschuss, das im Rahmen des IPbpR eingerichtete Expertengremium zur Überwachung seiner Umsetzung, hat erklärt: "Auch die Hinrichtung verurteilter Personen, deren Schuld nicht zweifelsfrei feststeht, stellt eine willkürliche Entziehung des Lebens dar. Vertragsstaaten müssen daher alle durchführbaren Maßnahmen ergreifen, um ungerechtfertigte Verurteilungen in Fällen der Todesstrafe zu vermeiden und verfahrensrechtliche Hindernisse für die Überprüfung von Verurteilungen zu prüfen. Die Vertragsstaaten sollten auch die Auswirkungen neuer zuverlässiger Studien auf die Bewertung von Beweisen, die bei Kapitalverbrechen vorgelegt werden, berücksichtigen, darunter auch von Studien, die auf das Vorliegen falscher Geständnisse hindeuten."
Am 18. Februar 2022 erließ die Interamerikanische Menschenrechtskommission "vorsorgliche Maßnahmen" und forderte die USA auf, die Hinrichtung von Melissa Lucio auszusetzen, bis die Kommission in der Lage sei, eine Entscheidung über ihre Petition zu treffen. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat klargestellt, dass Todesurteile nach dem Völkerrecht "nicht vollstreckt werden dürfen, solange internationale vorläufige Maßnahmen in Kraft sind, die einen Aufschub der Hinrichtung erfordern".
In diesem Jahr gab es bereits drei Hinrichtungen in den USA. Dies wäre die erste in Texas, dem Bundesstaat, in dem seit der Verabschiedung der neuen Todesstrafengesetze durch den Obersten Gerichtshof 1976 insgesamt 573 der 1.543 Todesurteile in den USA vollstreckt wurden. Mindestens 186 Menschen, die seit 1973 in den USA zum Tode verurteilt wurden, sind später entlastet worden. Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe.
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