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Warum wir 2023 die Pride als Protest noch immer dringend brauchen

16. Juni 2023
von Montserrat Romero, Campaignerin bei Amnesty International Österreich

Mit der populistischen Parole „Lasst Kinder Kinder sein!“ warnten vor wenigen Wochen Politiker*innen in Österreich vor einer angeblichen „Frühsexualisierung“ von Kindern bei Kinderbuchlesungen von Drag Artists. Sie offenbarten damit nicht nur ihr Unwissen und ein mangelndes Verständnis von Menschenrechten. Sie zeigten auch auf, woran es in den jüngsten Debatten mangelt: am Zuhören. Dass mit der Regenbogenparade am 17. Juni in Wien das wohl vielfältigste Fest des Jahres mit hunderttausenden Teilnehmer*innen gefeiert wird, darf uns also nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Bereich der LGBTQIA+ Rechte noch immer viel zu tun gibt. Das gilt weltweit – aber auch in Österreich, wie uns die jüngste Hetze drastisch vor Augen führte.

Fortschritte und Rückschläge

In den letzten Jahrzehnten wurde hierzulande viel erreicht. Seit 2010 haben gleichgeschlechtliche Paare in Österreich die Möglichkeit, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen. Neun Jahre später wurde die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Lesbische und schwule Paare können heute in Österreich Kinder adoptieren. Gesetze auf nationaler und EU-Ebene verbieten Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität am Arbeitsplatz, im Bereich der Gesundheit oder beim Zugang zu Dienstleistungen.

© Free Girls Movement
Montserrat Romero Campaignerin bei Amnesty International Österreich

Montserrat Romero ist Campaignerin bei Amnesty International Österreich und leitet die Kampagne Protect the Protest, mit der wir uns weltweit und in Österreich für das Recht auf Protest einsetzen.

Foto: (c) Free Girls Movement

Doch kann diese Aufzählung nur eine oberflächliche Betrachtung der Situation von LGBTQIA+ Personen in Österreich sein. Wer wie ich Menschen im eigenen Umfeld hat, die von Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität betroffen sind, kann wahrscheinlich besser erahnen, wie weit der Weg noch ist, den wir gemeinsam noch gehen müssen. Den wir gehen müssen, wenn wir einer Welt leben möchten, in der eine rechtliche und tatsächliche Gleichstellung erreicht ist und Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung und/oder Identität endlich hinter uns liegt.

Denn neben hart erkämpften, positiven Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten steht ein oftmals vergifteter Diskurs voller Hetze, der wie zuletzt mit Falschinformationen („Kinderbuchlesungen in Dessous“) verhetzende Narrative befeuert und LGBTQIA+ Personen stigmatisiert.

Jede Diskriminierung verletzt die menschliche Würde und ist ein Angriff auf die Menschenrechte. Es macht daher betroffen, wenn Politiker*innen in Österreich zur Stigmatisierung von LGBTQIA+ Menschen beitragen, anstatt sich für eine inklusive Gesellschaft einzusetzen.

Montserrat Romero, Campaignerin bei Amnesty International Österreich

Jede Form der Ausgrenzung oder Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität oder des Geschlechtsausdrucks ist inakzeptabel und verstößt gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Menschenrechte. Aussagen, die Kinderbuchlesungen von Drag Queens – bei denen es um Geschichten über Vielfalt und über das Anderssein geht – mit Sexualisierung von Kindern in Verbindung bringen, verstärken lediglich schädliche Stereotype und Vorurteile, die LGBTQIA+ Personen diskriminieren. Wer von Indoktrinierung von Kindern durch Drag-Kinderbuchlesungen spricht, hat schlicht nicht zugehört. Was ist die Kunstform Drag, was macht eine Drag Queen oder ein Drag Artist wirklich? Du weißt es nicht? Kein Wunder. Wer in den letzten Wochen die Debatte verfolgt hat, hat vermutlich kaum dazugelernt. Denn worum es ging, war nicht mehr Verständnis für eine Kunstform – sondern dumpfe Angstmache, die alte ausgrenzende Narrative wiederkäute.

Hört zu! Solidarisiert euch! Werdet Allies!

Wenn in Österreich Drag Artists angegriffen werden, steht dies symptomatisch für den langen Weg, der vor uns liegt. Überall auf der Welt werden Menschen dafür verfolgt, wen sie lieben, wie sie sich kleiden, und letztlich dafür, wer sie sind. In noch immer viel zu vielen Fällen werden LGBTQIA+ Personen auf der Straße belästigt, verhöhnt, verprügelt und manchmal sogar getötet. Und in viel zu vielen Ländern gilt die Todesstrafe auf „gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen“.

Doch der Hass kann nur bestehen, wenn echter Dialog verhindert wird. Sobald wir aufeinander zugehen, zuhören und verstehen, wird Hass und Hetze der Wind aus den Segeln genommen. Es ist daher an uns allen, nicht nur mit LGBTQIA+ Personen und ihren Allies ein Fest zu feiern (das auch!) – sondern auch, zuzuhören, nicht vorzuverurteilen und Solidarität zu leben, indem wir Pride auch als Protestform verstehen.

Wir alle haben etwas davon. Denn es sind meist Menschen, die Diskriminierung erleben oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden sollen, die im Mittelpunkt von Protestbewegungen stehen und dafür sorgen, dass unsere Welt gerechter und gleichberechtigter wird. Gleichzeitig sind sie die Hauptleidtragenden von Angriffen jener Menschen, die durch Proteste und Aktivismus ihre Kontrolle bedroht sehen – wie Angriffe und Repressionen gegen die Pride und andere Protestaktionen der LGBTQIA+ Community nicht nur in der Türkei, Polen oder der Slowakei, sondern eben leider auch in Österreich zeigen. Es ist dem Engagement und dem Mut derjenigen zu verdanken, die ihr Recht auf Protest trotzdem wahrnehmen, dass eine gerechtere und freiere Welt für uns alle möglich ist. Das hat auch die Pride gezeigt, die 1969 als Protestform startete und einen Wendepunkt bei der Erkämpfung der Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans, queeren, intergeschlechtlichen, agendered und asexuellen Personen darstellt.

Gemeinsam müssen wir also das Recht auf Protest schützen, wo immer es eingeschränkt wird, wann immer es in Gefahr ist. Das gilt 2023 leider noch immer für die Pride.

Lasst uns also am 17. Juni eine große Party, die Vielfalt und das Leben feiern – aber lasst uns gleichzeitig auch wachsam bleiben. Vergessen wir nicht, jenen Menschen zuzuhören, die in unserer Gesellschaft noch immer mit Vorurteilen und Ausgrenzung konfrontiert werden. Und kämpfen wir Seite an Seite für Menschenrechte und gegen Diskriminierung. Protect the pride!

Die Regenbogenparade in Wien findet am 17. Juni 2023 auf der Wiener Ringstraße statt. Start ist ab 13:00 Uhr beim Wiener Rathaus. Unter viennapride.at findest du weitere Informationen

Protect the Protest

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