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© Sawyedollah for Amnesty International

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Geflüchtete Rohingya müssen mitentscheiden dürfen

17. September 2020

Der Bericht «Let us speak for our rights» – Human rights situation of Rohingya refugees in Bangladesh (PDF, 27 Seiten englisch) zeigt auf, wie der Ausschluss aus Entscheidungsprozessen die Menschenrechte der Rohingya beeinträchtigt – von der Meinungs-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit bis hin zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Der Bericht fordert zudem eine umfassende und gründliche Untersuchung der Vorwürfe, wonach geflüchtete Rohingya außergerichtlich hingerichtet worden seien. 

"Die Rohingya wurden in Myanmar jahrzehntelang verfolgt und diskriminiert. Hunderttausende waren gezwungen zu fliehen, um sich vor den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu retten, die an ihnen begangen wurden. Drei Jahre nach ihrer Vertreibung ist ihre Lage immer noch sehr schlecht und sie werden daran gehindert, ihre Rechte einzufordern", sagt David Griffiths, Leiter des Generalsekretariats von Amnesty International. "Die bangladeschischen Behörden haben viele positive Schritte unternommen, um die geflüchteten Rohingya zu unterstützen, doch diesem Vorgehen mangelt es an Transparenz und dadurch sind die Rohingya fast vollständig aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Benötigt werden klare politische Maßnahmen, die Rohingya-Stimmen mit einbeziehen, um sicherzustellen, dass ihre Menschenrechte angemessen geschützt werden."

Amnesty International ruft zudem die internationalen Gemeinschaft auf, die bangladeschischen Behörden zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, um ein Vorgehen zu entwickeln, das in die internationale Zusammenarbeit und Hilfe eingebunden ist, um die geflüchteten Rohingya zu schützen.

Die Rohingya fast vollständig aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen.

David Griffiths, Leiter des Generalsekretariats von Amnesty International

Recht auf Freizügigkeit und Freiheit. Im Mai brachten die bangladeschischen Behörden mehr als 300 geflüchtete Rohingya nach Bhashan Char, eine entlegene Insel, die ausschließlich aus Schlicksand besteht und deren Bewohnbarkeit noch von der UNO geprüft werden muss. Die Geflüchteten waren Teil einer Gruppe von fast 1400 Rohingya – Männer, Frauen und Kinder –, die ihr Leben riskierten, als sie die höchst gefährliche Überfahrt nach Malaysia antraten. Sie fuhren in die Küstengewässer von Bangladesch zurück, als ihnen der Zutritt zu Malaysia verweigert und sie von den malaysischen Behörden auf See zurückgeschickt wurden. 

Die bangladeschische Marine rettete das Boot und schleppte es zu der Insel Bhashan Char. Dort möchte die Regierung auch weitere 103.200 geflüchtete Rohingya unterbringen.

Amnesty International sprach mit zwei Rohingya-Frauen und einem Rohingya-Mann auf Bhashan Char und mit acht Familienmitgliedern von weiteren 13 geflüchteten Rohingya, die sich zurzeit auf der Insel befinden.

Bei zwei Gesprächen berichteten die geflüchteten Rohingya, dass ihnen von sexualisierter Belästigung durch die Polizei und Marineangehörige auf der Insel berichtet wurde. Amnesty International fordert die bangladeschischen Behörden auf, eine umfassende und gründliche Untersuchung dieser Vorwürfe durchzuführen.

Geflüchtete Rohingya gaben an, dass sie mit zwei bis fünf Personen einen Raum teilen, der nur ca. 4,6 m2 groß ist und gerade einmal Raum für eine Person bietet. Es gibt 16 dieser Räume in jeder Unterkunft und jeweils nur zwei Toiletten. Die Menschen erhielten bei ihrer Ankunft lediglich ein Kleidungsstück, ein Moskitonetz und einen Teller. Viele von ihnen lassen ihr Bettlaken von Rohingya-Frauen mit Nähkenntnissen zu Kleidung umarbeiten. Sie erzählten weiter, dass sie zweimal am Tag Essen erhalten und es leid sind, seit ihrer Ankunft auf der Insel immer dasselbe essen zu müssen. Die einzige Gesundheitseinrichtung ist eine mobile Klinik, die von der Marine betrieben wird und täglich von 8 bis 12 Uhr geöffnet ist. Geflüchtete berichteten Amnesty International zudem, dass sie ihre Unterkünfte oft nicht verlassen dürfen.

Dieses lange Festsetzen der Geflüchteten auf der Insel ist ein Verstoß gegen die bangladeschischen Verpflichtungen aus Artikel 9 und 12 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der die Rechte auf Freiheit und die freie Wahl einer Unterkunft innerhalb eines Territoriums festschreibt.

"Die bangladeschischen Behörden sollten die derzeit auf Bhashan Char untergebrachten geflüchteten Rohingya in die Flüchtlingslager in Cox’s Bazar zurückbringen und sicherstellen, dass die Geflüchteten ohne jeden Zwang zu zukünftigen Plänen zu ihrer Verbringung auf der Insel konsultiert werden", forderte David Griffiths.

Recht auf Leben. Laut der bangladeschischen Menschenrechtsorganisation Odhikar wurden zwischen August 2017 und Juli 2020 mutmaßlich über 100 geflüchtete Rohingya außergerichtlich hingerichtet. Bislang ist jedoch keiner dieser Fälle untersucht und die mutmaßlichen Täter sind nicht vor Gericht gestellt worden.

Amnesty International sprach mit Familienmitgliedern von fünf geflüchteten Rohingya, die in Cox’s Bazar mutmaßlich außergerichtlich hingerichtet wurden. Die Fälle ähneln sich: Die Opfer wurden während eines "Schusswechsels" mit Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden getötet, die behaupten, dass sie erst als Reaktion auf Schüsse selbst schossen. Drei der fünf getöteten Rohingya-Männer wurden laut Aussagen ihrer Familien von der Polizei von zuhause mitgenommen und dann tot aufgefunden. 

Die bangladeschischen Behörden müssen die Vorwürfe und Befürchtungen der Rohingya Familien und der Zivilgesellschaft zur Kenntnis nehmen und umgehend eine umfassende, unabhängige und unparteiische Untersuchung aller mutmaßlichen außergerichtlichen Hinrichtungen durchführen und sicherstellen, dass die Verantwortlichen in fairen Gerichtsverfahren und ohne die Verhängung von Todesurteilen vor Gericht gestellt werden.

Recht auf Gesundheitsversorgung. Bis zum 23. August 2020 waren sechs geflüchtete Rohingya an Covid-19 gestorben und 88 Mitglieder der Gemeinschaft waren positiv auf den Virus getestet worden. Diese Zahlen gründen sich jedoch auf Tests bei nur 3931 Geflüchteten, also weniger als 1 Prozent der Rohingya-Bevölkerung in den Lagern. 

Das könnte eine erhebliche Untererfassung darstellen, da sich sehr wenige geflüchtete Rohingya bei den Gesundheitseinrichtungen der humanitären Organisationen freiwillig testen lassen. Sie haben zum einen Angst, von ihren Familien getrennt und in eine Quarantäne gezwungen zu werden, und zum anderen fürchten sie aufgrund ihrer Erfahrungen das respektlose Verhalten des medizinischen Personals. Dies entsteht durch den Mangel an klaren und gut zugänglichen Informationen zu den Gesundheitsdienstleistungen für die geflüchteten Rohingya, sagte ein Angestellte eines bekannten Anbieters von Gesundheitsdienstleistungen in dem Lager.

"Die Mitarbeiter*innen behandeln uns sehr schlecht. Wenn wir in unserer Muttersprache sprechen, sehen sie uns an und lachen. Das macht mich sehr nervös", sagt ein Rohingya-Teenager.

Die Behörden und humanitären Organisationen müssen die Sorgen der Patientinnen und Patienten und ihre Erfahrungen in den Gesundheitseinrichtungen ernst nehmen und alle Versäumnisse angemessen regeln. Dies sollte Teil der Kontrolle, Evaluation und des gezielten Trainings sein, um die Qualität der Gesundheitsdienstleistungen in den Lagern zu verbessern.

Geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung. Amnesty International hat zehn Rohingya-Frauen zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung in den Lagern befragt. Fünf gaben an, dass die Häufigkeit der Gewalt gegen Frauen während der Covid-19-Pandemie zugenommen habe, insbesondere häusliche Gewalt, da mehr Männer zuhause seien. Die Frauen sagten, dass ihre Männer, ohne die Möglichkeit selbst zu arbeiten, Druck auf sie ausüben würden, Geld nach Hause zu bringen und dass sie im Haus gewalttätig gegen sie seien. Vier der zehn Frauen war der Ansicht, dass die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen ein konstanter Faktor im Lager seien und wenig mit der Pandemie zu tun habe.

Rohingya-Frauen berichteten Amnesty International von Menschenhandel, sexualisierter Belästigung und Diskriminierung. In einigen Lagern gestatteten führende Gemeindemitglieder es den Frauen während der Pandemie nicht, arbeiten zu gehen. 

Frauen sind in den Gemeindeversammlungen in den Lagern völlig unterrepräsentiert und werden auf diese Weise diskriminiert. Neben 50 Männern werden nur ein bis zwei Frauen dazu eingeladen, berichtete eine 29-jährige Rohingya aus Lager 1W.

"Rohingya-Frauen und Kinder, die mehr als die Hälfte der Geflüchtete in Cox’s Bazar ausmachen, sind durch viele Formen der Schikane und Diskriminierung bedroht. Die Behörden und humanitären Organisationen müssen sicherstellen, dass alle Vorwürfe über Menschenhandel, sexualisierte Belästigung und Diskriminierung untersucht werden und dass Frauen wirklich zu Aktivitäten und Entscheidungen, die sie betreffen, konsultiert werden", betont David Griffiths.

Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Information. Am 24. August, ein Jahr nachdem die bangladeschischen Behörden den Zugang zu Highspeed-Internet in den Lagern eingeschränkt hatten, kündigte Außenminister Masud Bin Momen schliesslich an, dass diese Beschränkungen nun aufgehoben würden. Doch die geflüchteten Rohingya berichteten Amnesty International, dass in einigen Teilen des Lagers die Internetgeschwindigkeit zwar besser geworden sei, es aber in der Fläche immer noch nicht funktioniere. "Ich bekomme kein richtiges Netz. Ich muss irgendwo hochklettern, um eine [bessere] Geschwindigkeit zu bekommen", sagt ein Rohingya in Lager 12.

Die Internetbeschränkung hat den geflüchteten Rohingya sowohl Informationen zu Covid-19 vorenthalten als auch zur Frustration derjenigen beigetragen, die Angehörige außerhalb von Bangladesch haben, die sie nicht kontaktieren konnten.

Am 5. August 2020 nahm die Polizei einen jugendlichen Rohingya wegen der Nutzung von W-Lan in einem Internet Shop in Jamtoli in Lager 15 fest. "Ist die Nutzung von W-Lan ein Verbrechen?", fragte er die Polizisten. Sie antworteten, dass Rohingya kein W-Lan nutzen könnten. "Nach einer Stunde ließen sie mich endlich frei, gaben mir mein Handy zurück und sagten mir, dass ich nächstes Mal kein W-Lan nutzen dürfe", erzählte er Amnesty International.

Das Recht auf Bildung. Im Januar 2020 kündigte Bangladesch an, dass die Rohingya-Kinder die Möglichkeit erhalten würden, nach dem myanmarischen Lehrplan unterrichtet zu werden, eingangs von Stufe sechs bis neun, da sie eine Übergangsphase von dem existierenden informellen Bildungsprogramm benötigten. Dieser Plan sollte erstmalig mit 10.000 Kindern in der ersten Jahreshälfte 2020 durchgeführt werden, mit der Aussicht, auf mehr Kinder und mehr Stufen ausgeweitet zu werden. Nach Angaben von UNICEF befinden sich mehr als 400.000 Rohingya-Kinder im Schulalter zwischen drei und 18 Jahre in den Flüchtlingslagern.

Doch die Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen von Dienstleistungen in den Lagern haben nicht nur zur Schließung bestehender Lernorte geführt, sondern auch die Umsetzung des Myanmar-Curriculums verzögert. Diese Verzögerung bedeutet, dass Rohingya-Kinder, insbesondere diejenigen, die Stufe 9 bereits abgeschossen haben und für die es noch keine weiteren Schulklassen und andere Bildungsmöglichkeiten gibt, vorerst keine weitere Schulbildung erhalten.

"Die Regierung von Bangladesch muss sicherstellen, dass die Coronapandemie keine weitere Entschuldigung dafür wird, den Rohingya-Kindern den Zugang zu Bildung vorzuenthalten. Die internationale Gemeinschaft muss die bangladeschischen Behörden mit finanziellen Mitteln und anderen Ressourcen dabei unterstützen, den Myanmar-Curriculum umzusetzen", sagt David Griffiths.

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