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Amnesty Generalsekretär Kumi Naidoo über die zivilen Opfer in Rakka und die Verantwortung der US-geführten Koalition

23. Oktober 2018

Diesen Monat war ich in Rakka - mein erstes Mal in Syrien inmitten eines der blutigsten Konflikte der Welt seit Jahrzehnten. Ich habe die Zerstörung durch die unerbittliche Bombardierung der US-geführten Koalition während eines viermonatigen Kampfes, der vor einem Jahr endete, aus erster Hand miterlebt. Noch heute graben die Bewohner*innen Leichen aus dem Schutt und der Gestank des Todes hängt schwer in der Luft.

Als ich herumging, sah ich ganze Häuserblöcke eingeebnet durch Luft- und Artillerieangriffe der Koalition, im Kampf gegen die bewaffnete Gruppe, die sich Islamischer Staat (IS) nennt. Zur Unterstützung der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) vor Ort führten US-amerikanische, britische und französische Streitkräfte tausende von Luftangriffen durch. US-Militärbeamte prahlten damit, 30.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgefeuert zu haben – so viele wie seit dem Vietnamkrieg nicht mehr.

Es ist schwer zu vermitteln, wie grimmig und geisterhaft Teile der Stadt sind. Rakkas zentrale Altstadt ist heute eine Hülle von ausgebombten Gebäuden. Wohnblöcke wurden zu Bruchstücken zertrümmert, viele davon ähneln heute zusammengebrochenen Schichtkuchen. Die Schulen kämpfen mit der Wiedereröffnung. Kleine Kinder spielen mit Kriegsresten, während einige nach Altmetall im Schutt suchen, um ihre Familien zu ernähren.

Stell dir eine Stadt der Größe von Pittsburgh vor, die zu 80 Prozent zerstört liegt, während die vertriebene Bevölkerung langsam zurückkehrt. Das ist nicht die Vision von „Befreiung“, derer sich die US-amerikanische Koalition brüstet. Und kein Wunder - sie wollen nicht, dass die Welt weiß, wie wenig sie tun, um den Bewohner*innen zu helfen, die in die am schlimmsten zerstörte Stadt der Neuzeit zurückkehren. Es ist skandalös, dass die Koalition es den IS-Kämpfern mit ihren schweren Waffen und Familien erlaubt hat, Rakka zu verlassen, aber nicht die gleiche Sorgfalt aufwendete, um die unschuldige Zivilbevölkerung zu schützen.

Bisher haben die Bewohner*innen rund 2.500 Leichen geborgen - einige aus dem Schutt und andere aus Massengräbern - die meisten wahrscheinlich Zivilpersonen, die durch Luft- und Artillerieangriffe der Koalition getötet wurden.

Amnesty Generalsekretär Kumi Naidoo

Rund 30.000 Häuser wurden zerstört und weitere 25.000 schwer beschädigt. Bisher haben die Bewohner*innen rund 2.500 Leichen geborgen - einige aus dem Schutt und andere aus Massengräbern - die Mehrheit Zivilpersonen, die durch Luft- und Artillerieangriffe der Koalition getötet wurden. Da es keine forensischen Spezialist*innen gibt, werden überlebende Angehörige in den meisten Fällen nie erfahren, was aus ihren Lieben geworden ist.

Mit ihrer harten Arbeit und Widerstandsfähigkeit haben die Bewohner Rakka langsam wieder Leben eingehaucht. Aber alle, die ich traf, sagten mir, wie bitter sie vom schockierenden Mangel an Hilfe durch die Koalition enttäuscht sind - die anscheinend die Mittel hatte, die Stadt in einem so katastrophalen Feuerwerk zu bombardieren, aber nicht, sie wiederaufzubauen.

Die Koalition hat es völlig versäumt, die Auswirkungen ihres verheerenden Militärfeldzugs in Rakka zu untersuchen. Teams von Amnesty International haben seit der Offensive Hunderte von Überlebenden, Augenzeug*innen und lokalen Beamt*innen bei mehreren Feldbesuchen befragt. Nach der Schlacht war von der Koalition niemand von ihnen angesprochen worden.

Vor dem Bericht von Amnesty International vom Juni 2018 „War of Annihilation: Devastating Toll upon Civilians in Raqqa - Syria, hatte die Koalition zugegeben, in ihrer gesamten Rakka-Kampagne nur 23 Zivilisten getötet zu haben. Unsere engagierte, kontinuierliche Ermittlungsarbeit widerlegt diese falschen Angaben.

Nachdem Militärbeamte und Politiker zuerst vehement geleugnet hatten, gab die Koalition Ende Juli dieses Jahres kleinlaut zu, dass weitere 77 zivile Todesfälle zu beklagen waren, die in unserem Bericht dokumentiert sind. Wir glauben, dass es nur die Spitze des Eisbergs ist - unsere laufenden Untersuchungen deuten darauf hin, dass weitere hunderte Zivilpersonen von Angriffen der Koalition an Orten getötet wurden, an denen es keine IS-Kämpfer oder andere militärische Ziele gab. Jeder dieser Fälle beweist Verletzungen des Völkerrechts. Zusammengenommen ist es ein vernichtendes Bild.

Also, was ist schiefgelaufen? War es eine Fehlfunktion der Waffen, Unwissenheit, menschliches Versagen oder absolute Fahrlässigkeit? Hat die Koalition die Ziele nicht ausreichend überprüft, oder war es die schlechte Wahl der Munition? Dies sind entscheidende Details, sowohl zur Feststellung von Fakten als auch zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit. Nachdem der Feldzug der Koalition in Mosul, Irak, für die Zivilbevölkerung ähnlich verheerend war, ist es entscheidend, die notwendigen Lehren zu ziehen, um ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Müssten die Verantwortlichen in Rakka Rechenschaft ablegen, würde das einen willkommenen Präzedenzfall im Konflikt mit Syrien schaffen, wo zu viel unschuldiges Blut von allen Konfliktparteien vergossen wurde.

In einem Schreiben an Amnesty International im September weigerte sich das US-Verteidigungsministerium erneut, sich zu den Umständen seiner Luftangriffe, die zu zivilen Verlusten führten, zu äußern. Beunruhigenderweise scheint das Pentagon nicht einmal bereit zu sein, sich dafür zu entschuldigen, hunderte Zivilpersonen getötet zu haben. Das ist eine Beleidigung für die Opfer und Überlebenden.

Niemand bestreitet, dass IS-Kämpfer Kriegsverbrechen gegen Rakkas Zivilbevölkerung begangen haben - Amnesty International hat diese ausführlich dokumentiert. Aber IS-Verbrechen entbinden die Koalition nicht von ihrer Verpflichtung, die Kriegsgesetze einzuhalten.

Während die Koalition weiterhin ihren Kopf in den Sand steckt, werden wir weiterhin das volle Ausmaß der zivilen Opfer untersuchen - eine Aufgabe, die von der Koalition übernommen werden sollte - und die Forderung der Opfer nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung unterstützen.

Sajed verlor sieben Familienmitglieder, darunter seine Frau und drei kleine Kinder, als mehrere Angriffe der Koalition das Haus, in dem sie untergebracht waren, platt machten. Das hat er mir gesagt: „Nichts kann meine Kinder zurückbringen, aber wir müssen nach Gerechtigkeit streben, damit andere Eltern ihre Kinder nicht verlieren müssen“. Jede*r der hinterbliebenen Anghörigen, die ich in Rakka getroffen habe, will Gerechtigkeit, und ich glaube, sie verdienen sie.

Nichts kann meine Kinder zurückbringen, aber wir müssen nach Gerechtigkeit streben, damit andere Eltern ihre Kinder nicht verlieren müssen.

Sajed verlor Frau und drei Kinder bei Angriffen in Rakka

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