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© Die etwa 90-jährige Shakwa im Lager in Borno State, Nordost-Nigeria, Oktober 2020 / The Walking Paradox / Amnesty International.

news © Die etwa 90-jährige Shakwa im Lager in Borno State, Nordost-Nigeria, Oktober 2020 / The Walking Paradox / Amnesty International.

Ältere Menschen leiden besonders unter dem Konflikt mit Boko Haram

8. Dezember 2020

Im Norden Nigerias begehen Boko Haram und das nigerianische Militär Gräueltaten und Kriegsverbrechen gegen ältere Menschen. Für die Taten wird niemand zur Rechenschaft gezogen.

Ältere Menschen haben besonders unter dem Konflikt gelitten, der seit fast einem Jahrzehnt im Nordosten Nigerias wütet. Viele von ihnen seien in ihren Häusern verhungert oder abgeschlachtet worden, andere leiden in elenden und unrechtmässigen Militärgefängnissen. Zu diesen Ergebnissen kommt Amnesty International im Bericht «My heart is in pain: Older people’s experience of conflict, displacement, and detention in Northeast Nigeria».

Der Bericht zeigt auf, wie sowohl Boko Haram als auch das nigerianische Militär Gräueltaten an älteren Frauen und Männern begangen haben, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Auch wird dokumentiert, wie vertriebene ältere Menschen von der humanitären Hilfe konsequent übersehen werden.

"Wenn Boko Haram in Städte und Dörfer eindrangen, konnten ältere Männer und Frauen meist als letzte fliehen. Dadurch waren sie der Brutalität und Repression der bewaffneten Gruppe besonders ausgesetzt", sagt Joanne Mariner, Direktorin für Krisenreaktion bei Amnesty International. "Sie erlebten Dinge, die  Kriegsverbrechen und wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen: Dazu gehörten Folter und der Zwang, Zeuge von Tötungen und Entführungen ihrer Kinder zu werden."

Amnesty International stellte fest, dass auch bei Angriffen des nigerianischen Militärs viele ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht fliehen konnten. Viele wurden angeschossen und getötet, als Soldaten die Häuser mit Kugeln durchsiebten. Andere sind in ihren Häusern verbrannt, als das Militär die Dörfer von Menschen niederbrannte, die man als UnterstützerInnen von Boko Haram verdächtigte.

Ältere Menschen erlebten Dinge, die  Kriegsverbrechen und wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen: Dazu gehörten Folter und der Zwang, Zeuge von Tötungen und Entführungen ihrer Kinder zu werden.

Joanne Mariner, Direktorin für Krisenreaktion bei Amnesty International

"Tausende von älteren Menschen starben außerdem in der Militärhaft aufgrund der dort herrschenden haarsträubenden Bedingungen. Auch dies sind Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so Joanne Mariner. Amnesty International befragte 17 ältere Männer und neun ältere Frauen, die unrechtmäßig – für Zeiträume von vier Monaten bis zu mehr als fünf Jahren – unter unmenschlichen Bedingungen in Maiduguris berüchtigter Giwa-Kaserne und in  anderen Orten inhaftiert waren.

Starke Überbelegung, Nahrungs- und Wasserknappheit, extreme Hitze, Parasiten- und Insektenbefall sowie fehlender Zugang zu angemessenen sanitären Einrichtungen und zu Gesundheitsversorgung gehören zu den prekären Lebensbedingungen in Giwa und den anderen Lagern. Amnesty International schätzt, dass seit 2011 mindestens 10'000 Menschen in der Haft gestorben sind, viele von ihnen in der Giwa-Kaserne. Darunter sind überproportional viele ältere Männer.

Leben unter Boko Haram

Viele Dörfer in den von Boko Haram kontrollierten Gebieten sind unverhältnismäßig stark von älteren Menschen bevölkert, die nicht fliehen können oder die sich dafür entscheiden, zu bleiben und ihr Land weiter zu bestellen. Diese älteren Menschen werden von allen Seiten bedroht. Boko Haram plündert ihren Besitz und schränkt oft die Bewegungsfreiheit älterer Frauen ein, wodurch es für die Familien schwieriger wird, Geld zu verdienen und sich zu ernähren. Boko Haram entführt oder tötet auch Kinder und Enkelkinder, und manchmal werden die älteren Menschen gefoltert oder getötet.

Bild: Eine ältere Frau mit ihren Enkelkindern im Flüchtlingslager für intern Vertriebene. © The Walking Paradox / Amnesty International

"Boko Haram (...) fragte, warum ich dablieb, während doch alle anderen wegliefen... Ich sagte ihnen, es sei mein Haus, und ich hätte keine Angst vor dem Tod. Darauf sagten einige, statt mich zu töten, würden sie mir Schmerzen bereiten. Sie holten ein Messer heraus und stachen mir in den Fuss, womit sie eine große Wunde hinterließen", erzählt eine 80-jährige Frau aus einem Dorf im Kommunalverwaltungsbezirk Michika (LGA) im Bundesstaat Adamawa.

Am 28. November 2020 tötete Boko Haram mindestens 43 Landarbeiter in der Nähe des Dorfes Koshebe im Bundesstaat Borno, meist mit Macheten oder Messern; Dutzende weitere Zivilpersonen aus der Gegend werden weiterhin vermisst. Amnesty International sprach auch mit einem 65-jährigen Landarbeiter, der von Boko Haram gefangen genommen wurde, den sie aber wieder freiließen – nachdem sie zwei seiner Söhne getötet hatten. Fünf Jahre zuvor hatte Boko Haram bereits einen weiteren seiner Söhne ermordet, während eines Angriffs, der seine Familie zur Flucht aus ihrem Dorf  zwang.

Der Diebstahl von Ernten und Vieh und die strengen Zugangsbeschränkungen zu Hilfsgütern haben zu einer extremen Ernährungsunsicherheit für ältere Menschen geführt. Amnesty International erhielt Berichte, dass viele Menschen an Hunger sterben. Im September 2020 wies der Uno-Generalsekretär darauf hin, dass der Nordosten Nigerias von einer Hungersnot bedroht sei.

ZUM BERICHT

Bezogen auf den Nordosten Nigerias bezeichnet Amnesty International Menschen, die über 50 Jahre alt sind, als "ältere Personen". Für diesen Bericht sprach Amnesty International mit 62 älteren Frauen und 71 älteren Männern, die vom Konflikt mit Boko Haram betroffen sind. Amnesty befragte auch Vertreter*innen internationaler und lokaler humanitärer Organisationen, die im Nordosten Nigerias tätig sind, sowie Zeug*innen von Gräueltaten an älteren Menschen. Außerdem wurde Krankenhauspersonal und Gefängnispersonal befragt.

 

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