Die Geschichte von Salima Memcha: Einsatz für Gerechtigkeit in Manipur
15. Juli 2020Salima Memcha kommt aus Manipur, Nordostindien. Dort lebte sie als einfache Farmerin, Ehefrau und Mutter von vier Kindern. Durch ein gewaltsames Zusammentreffen mit den örtlichen Sicherheitskräften änderte sich ihr Leben schlagartig. Im Januar 2010 drangen staatliche Sicherheitskräfte ohne Durchsuchungsbeschluss in ihr Haus ein, raubten es aus und zerstörten es. Die Männer folterten sie und ihren Ehemann, Mohammed Faziruddin. Dieser wurde von den Männern mitgenommen – und kehrte nicht zurück. Als seine Leiche vor einer örtlichen Polizeiwache gefunden wurde, trug er eine Uniform der bekannten paramilitärischen Gruppe Assam Rifles. Sie war ihm jedoch viel zu groß und wies auch keine Einschusslöcher auf, obwohl auf dem Körper deutlich über 20 Schusswunden zu erkennen waren. Nichtsdestotrotz behauptete die Polizei, dass Mohammed ein paramilitärischer Kämpfer sei und bei einem Schusswechsel getötet wurde.
Außergerichtliche Hinrichtung. Salima war klar, dass es sich um eine Scharade handelte: Ihr Mann war kein Kämpfer, ihm wurde die Kleidung erst nach seinem Tod angezogen. Er war Opfer einer außergerichtlichen Hinrichtung geworden.
Der Fall von Salima ist kein Einzelfall. Seit dem Jahr 1980 gilt Manipur als „Unruhegebiet“, in dem ein Gesetz namens AFSPA (Armed Forces Special Powers Act) aus dem Jahr 1958 staatlichen Sicherheitskräften besondere Befugnisse einräumt. So können sie beispielsweise Personen festnehmen, durchsuchen und sogar auf sie schießen, ohne einen Haftbefehl oder Durchsuchungsbeschluss dafür zu brauchen. Sogenannte „fake encouters“, d.h. inszenierte bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und paramilitärischen Gruppen, bei denen es sich um mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen handelt, sind in Manipur keine Seltenheit. Zwischen 1979 und 2012 wurden 1.528 solcher Fälle dokumentiert – und das sind nur diejenigen, die der Öffentlichkeit bekannt sind. Dabei herrscht, unter anderem aufgrund des AFSPA-Gesetzes, ein Klima der Straffreiheit für Polizei und Armee.
Gerechtigkeit für die Ermordeten. Einige Witwen und andere Angehörige der Getöteten schlossen sich 2009 zu einer Gemeinschaft zusammen, der Extrajudicial Execution Victim Families Association Manipur (EEVFAM). Sie haben sich zum Ziel gesetzt, Gerechtigkeit für die Verstorbenen zu erlangen und dafür zu sorgen, dass die Fälle aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Neben der Unterstützung für die Hinterbleibenden besteht ein Teil ihrer Arbeit auch aus der Dokumentation aller vermuteten außergerichtlichen Hinrichtungen. Bei EEFVAM fand Salima, die zunächst verängstigt und traumatisiert war, wieder Hoffnung. Wie viele andere Witwen muss sie nach dem Tod ihres Mannes ihre Kinder alleine versorgen. Bei EEFVAM teilen die Frauen und Familien ihre Geschichten und auch das Leid. Sie helfen sich gegenseitig bei alltäglichen Problemen und geben emotionale Unterstützung – über religiöse und ethnische Grenzen hinweg.
Zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Human Rights Alert richtete sich EEVFAM 2012 an den Obersten Gerichtshof in Indien. In einer Public Interest Litigation (zu Deutsch etwa: Klage zur Wahrung öffentlicher Interessen) beantragten sie die Untersuchung der mutmaßlichen extralegalen Hinrichtungen. Im Sommer 2017 ordnete dann der Oberste Gerichtshof die Untersuchung von mehr als 90 Fällen durch das „Central Bureau of Investigation“ (CBI) an. Bisher wurden in nur wenigen Fällen tatsächlich Ermittlungen eingeleitet. Salimas Fall gehört nicht dazu. Allgemein verläuft der Prozess schleppend und es kommt immer wieder zu Verzögerungen und verschobenen Terminen.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass einige der mutmaßlichen Verantwortlichen wichtige offizielle Positionen innehaben. Die Initiative von EEFVAM ist den Machthabenden ein Dorn im Auge. Die indische Regierung argumentiert, dass sich Strafverfolgung von Sicherheitskräften negativ auf die Moral von Polizei und Armee auswirken würde. Generell erhält die Armee breite Unterstützung von vielen Bevölkerungsgruppen in Indien. Sie gilt als „unantastbar“.
Bedroht und eingeschüchtert. Einige der Aktivist*innen sind aufgrund ihres Engagements immer wieder Drohungen, Einschüchterungen oder Belästigungen ausgesetzt. So auch Salima. Am frühen Morgen des 7. April 2018, an dem Tag, an dem sie eine Erklärung zum Falle ihres Mannes bei der Kriminalpolizei abgeben sollte, kamen erneut Sicherheitskräfte und Männer einer paramilitärischen Gruppe zu ihrem Haus, stahlen und zerstörten persönliches Eigentum und bedrohten sie. Damit wollten sie eine klare Warnung senden und sie so zum Schweigen bringen. Doch Salima ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen. Dank der Hilfe von EEFVAM entwickelte sie sich von einer eingeschüchterten Mutter und Witwe zu einer selbstbewussten Frau, die sich mutig gegen Straflosigkeit der staatlichen Sicherheitskräfte einsetzt. „Wir verdienen Gerechtigkeit. Ich werde nicht aufhören, dafür zu kämpfen“, so Salima.
Amnesty India machte Salima Teil der „BRAVE“-Kampagne und auch die deutsche Sektion nahm ihren Fall als „Brief gegen das Vergessen“ auf. Im September 2018 reiste Salima zusammen mit Monika Khangembam, einer Frauenrechtsaktivistin und Unterstützerin von EEFVAM, auf Einladung der Indien-Koordinationsgruppe nach Berlin. Gemeinsam machten sie auf die Situation in Manipur aufmerksam und baten Politiker*innen um Unterstützung. Amnesty fordert ein sofortiges Ende der Einschüchterungen und Drohungen gegen Salima und andere Aktivist*innen von EEVFAM.
Von Linda Fiene, Mitglied des NW Frauenrechte. Sie macht derzeit ein Praktikum bei Amnesty Deutschland.
MUSTERBRIEF
APPELLE AN
Chief Minister N. Biren Singh
Manipur CM Office
4th Block, Western Block
New Secretariat
Imphal, 795001
Manipur, INDIEN
INHALT
Dear Chief Minister,
I am writing to you to express my concern that in Manipur, Northeast India, the human rights defender Salima Memcha is being subjected to harassment and threats. On 7 April 2018, police personnel and paramilitary group came to her house and destroyed personal belongings. These attacks and threats appear to be linked to her efforts demanding the investigation into her husband´s death. He is assumed to have been killed by security forces in January 2010.
Salima Memcha is part of the Extrajudicial Execution Victim Families Association Manipur (EEVFAM) that documents alleged cases of extrajudicial killings. Unfortunately, she is not the only member of EEVFAM who has been threatened, harassed and intimidated.
I call on you to immediately and unconditionally stop the intimidation, harassment and attacks against Salima Memcha and other human rights defenders from EEVFAM.
Please make sure that all complaints of intimidation, harassment and attacks against Salima Memcha and other human rights defenders are investigated in a timely and impartial manner.
Sincerely,
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
mit Sorge habe ich erfahren, dass in Manipur im Nordosten Indiens die Menschenrechtlerin Salima Memcha schikaniert und bedroht wird. Am 7. April 2018 drangen Angehörige des Paramilitärs und der Polizei in ihr Haus ein und verwüsteten persönliches Eigentum. Diese Übergriffe und Drohungen hängen offenbar damit zusammen, dass ihr Ehemann im Januar 2010 mutmaßlich von Sicherheitskräften getötet wurde und sie sich für eine Aufklärung des Falls einsetzt.
Salima Memcha ist Mitglied des Kollektivs Extrajudicial Execution Victim Families Association Manipur (EEVFAM), das mutmaßliche Fälle außergerichtlicher Hinrichtungen dokumentiert. Sie ist nicht die einzige EEVFAM-Aktivistin, die bedroht, schikaniert und eingeschüchtert wurde.
Bitte sorgen Sie dafür, dass die Einschüchterungen, Schikanen und Angriffe gegen Salima Memcha und weitere Menschenrechtsverteidiger_innen von EEVFAM umgehend eingestellt werden.
Außerdem müssen alle Beschwerden von Salima Memcha und anderen Menschenrechtsverteidiger_innen über Einschüchterungen und Angriffe zeitnah und unabhängig untersucht werden.
Hochachtungsvoll