Belarus: Lasst Maria Kolesnikowa frei!
23. September 2020Angehörige der belarussischen Behörden haben am 7. September 2020 die Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa entführt. Nachdem sie sich gegen die Abschiebung aus Belarus gewehrt hatte, wurde sie festgenommen und am 16. September wegen "Untergrabung der nationalen Sicherheit" angeklagt. Die Behörden treiben ihre Strafverfolgung voran, um einen Präzedenzfall zu schaffen und eine Warnung an alle friedlichen Protestierenden zu senden. Maria Kolesnikowa ist für die Protestierenden zu einem Symbol für Widerstand, Würde und Mut geworden.
Amnesty fordert:
- Ich fordere Sie auf, sämtliche Strafverfahren gegen Maria Kolesnikowa sowie alle anderen gewaltlosen politischen Gefangenen in Belarus einzustellen und ihre umgehende und bedingungslose Freilassung sicherzustellen.
- Ich rufe Sie auf, unverzüglich eine effektive und unparteiische Untersuchung der gemeldeten Menschenrechtsverletzungen einzuleiten. Untersuchen Sie auch die Entführung von Maria Kolesnikowa, alle Vorfälle von rechtswidrigem Freiheitsentzug und willkürlichen Festnahmen, die rechtswidrige Gewaltanwendung von Vollzugsbehörden, sowie das Konstruieren von Strafanzeigen gegen politische Aktivist*innen. Stellen Sie sicher, dass die Verantwortlichen für diese Taten in rechtstaatlichen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden.
Sachlage
Maria Kolesnikowa wird auf der Grundlage von Paragraf 361 des Strafgesetzbuchs ("Aufruf zu Aktionen zur Untergrabung der nationalen Sicherheit") festgehalten und strafrechtlich verfolgt.
Sie hat keine international anerkannte Straftat begangen und wird allein wegen ihrer Ausübung der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung strafrechtlich verfolgt. Für ihre Strafverfolgung gibt es keine Grundlage im belarussischen Recht und sie verletzt die internationalen Verpflichtungen des Staates Belarus. Die Behörden zu kritisieren, an friedlichen Protestkundgebungen teilzunehmen oder friedliche Demonstrationen zu organisieren sind Menschenrechte und keine Straftaten.
Maria Kolesnikowa verschwand am 7. September in Minsk. Es wurde schnell bekannt, dass sie von maskierten Männern in Zivil verschleppt und zur Grenze gebracht worden war. Dort wehrte sie sich gegen die Abschiebung in die Ukraine, indem sie ihren Pass zerriss. Daraufhin wurde sie festgenommen und am 16. September einer Straftat angeklagt, die sie nicht begangen hat.
Der Fall von Maria Kolesnikowa ist beispielhaft für dutzende Personen, die in Belarus wegen konstruierten Vorwürfen angeklagt werden, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrnehmen. Sie alle sind gewaltlose politische Gefangene und müssen umgehend und bedingungslos freigelassen werden.
Hintergrundinfo
Maria Kolesnikowa, professionelle Musikerin und ehemalige Intendantin eines Kulturzentrums, schloss sich im Mai 2020 dem Wahlkampfteam des Präsidentschaftskandidaten Wiktar Babaryka an. Sie wurde eine der Oppositionsführer*innen, nachdem Wiktar Babaryka und ein anderer Präsidentschaftsanwärter, Siarhei Tsikhanousky, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom 9. August festgenommen wurden. Zusammen mit Svetlana Tsikhanouskaya und Veronika Tsapkalo, gründete Maria Kolesnikowa eine aus Frauen bestehende Gruppe, die sich gegen die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko wandte und zu Massenprotesten gegen seine Wahl aufrief. Veronika Tsapkalo verließ Belarus am 9. August aus Angst vor Verfolgung. Nachdem Svetlana Tsikhanouskaya am 10. August ins Exil gezwungen wurde, blieb von den Dreien nur Maria Kolesnikowa als Oppositionelle in Belarus. Sie stellte sich an die Spitze zahlreicher friedlicher Straßenproteste, stellte sich wiederholt gegen gewalttätige Polizeiangehörige, gab diverse Medieninterviews und setzte sich weiterhin für Menschen ein, die willkürlich inhaftiert und in Haft gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden. Maria Kolesnikowa ist auch Mitglied des siebenköpfigen Gremiums des oppositionellen Koordinierungsrates, der nach den Wahlen gebildet wurde.
Sie verschwand am Morgen des 7. Septembers – zur gleichen Zeit wie zwei andere prominente Mitglieder des Koordinierungsrats, Ivan Krautsou und Anton Radnyankou. Augenzeug*innen sahen, wie sie von maskierten Männern in Zivilkleidung in einen Kastenwagen mit der Aufschrift "Communications" gezerrt wurde. Den ganzen Tag über stritten die Behörden ab, etwas über das Schicksal und den Aufenthaltsort der Oppositionsführer*innen zu wissen. Am Morgen des 8. Septembers bestätigten die ukrainischen Behörden in einer offiziellen Erklärung, dass Ivan Krautsou und Anton Radnyankou die Grenze zur Ukraine überquert hätten. Später stellte sich in den Medien heraus, dass die zwei gezwungen worden waren, Belarus gegen ihren Willen zu verlassen. Zudem wurde bekannt, dass Maria Kolesnikowa mit ihnen dort gewesen war, sich aber gewehrt hatte und ihre Abschiebung in die Ukraine verhindern konnte, indem sie ihren Pass zerriss. Es wurde allgemein angenommen, dass sie inhaftiert worden war, obwohl die belarussischen Behörden dies abstritten. Erst am 9. September, über 48 Stunden nach ihrem Verschwinden, legten die belarussischen Behörden ihren Aufenthaltsort offen. Zuerst wurde sie von der Grenzwache in Mazyr festgehalten, danach wurde sie in ein Haftzentrum in der Hauptstadt Minsk gebracht. Später verlegte man sie in ein Haftzentrum in Zhodzina, weil sich in der Hauptstadt regelmäßig Menschenmengen versammelt hatten und vor den Gefängnistoren ihre Freilassung forderten. Maria Kolesnikowa ist weiterhin inhaftiert. Ihr wird "Aufruf zu Aktionen zur Untergrabung der nationalen Sicherheit" nach Paragraf 361 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu fünf Jahre Haft.
Maria Kolesnikowa ist nicht die einzige Person, die im Zusammenhang mit den Wahlen strafrechtlich verfolgt wird. Schon im Vorfeld der Wahlen wurden Dutzende Kritiker*innen von Alexander Lukaschenko, darunter Siarhei Tsikhanousky, Wiktar Babaryka, Pawel Sewjarynez und Vitali Shkliarov, aufgrund von konstruierten Anklagen festgenommen. Als am 9. August 2020 friedliche Demonstrationen gegen den offiziell verkündeten Sieg von Alexander Lukaschenko ausbrachen, gingen die Behörden brutal gegen die Protestierenden vor. Die Bereitschaftspolizei setzte Gummigeschosse, Blendgranaten, Wasserwerfer sowie chemische Reizstoffe ein, um die friedlichen Menge aufzulösen. Rund 7.000 Protestierende wurden festgenommen. Viele von ihnen wurden schon in der ersten Protestwoche zusammengeschlagen, erniedrigt, gefoltert und in überfüllten Haftanstalten anderweitig misshandelt. Tausende friedliche Protestierende wurden seitdem ähnlich behandelt. Die Protestanführer*innen wurden inhaftiert oder ins Exil gezwungen.
Diese Urgent Action läuft bis 18.11.2020