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© Mohamed Al-Bakour/AFP/Getty Images

news © Mohamed Al-Bakour/AFP/Getty Images

Giftgasangriff in Syrien

6. April 2017

UN-Sicherheitsrat muss dringend handeln

  • Expert*innen zufolge wurde bei einem Luftangriff im Norden Syriens ein Nervengas (vermutlich Sarin) freigesetzt
  • Amnesty International hat Dutzende Videos vom Ort des Geschehens geprüft und analysiert
  • Dies war bislang der tödlichste Angriff mit chemischen Kampfstoffen seit 2013; aber auch zuvor wurden chemischer Waffen eingesetzt und Kriegsverbrechen mit konventionellen Waffen begangen

Fordern Sie jetzt Gerechtigkeit für die Opfer des Konflikts in Syrien(weltweiter Aufruf von Amnesty International).

Die Hinweise häufen sich, dass vergangenen Dienstag, den 4. April, bei einem Luftangriff in Chan Scheichun in der nordsyrischen Provinz Idlib Nervengas zum Einsatz kam. Bei dem Angriff wurden mehr als 70 Personen getötet und hunderte Zivilist*innen verletzt.

Amnesty International fordert den UN-Sicherheitsrat auf, unverzüglich eine Resolution zu verabschieden, die ein Verbot chemischer Kampfstoffe durchsetzen und es einfacher machen würde, die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Mitglieder des Sicherheitsrates – insbesondere Russland und China – haben Menschenleben in Syrien gegenüber bisher gefühllose Geringschätzung bewiesen. Immer wieder haben sie gegen die Verabschiedung von Resolutionen gestimmt, die Sanktionen gegen jene ermöglicht hätten, die in Syrien Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstöße begehen.

Anna Neistat, Leiterin der Ermittlungsabteilung bei Amnesty International

„Der Sicherheitsrat muss sofort dafür stimmen, diesen Angriff zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Dies zu unterlassen wäre eine Katastrophe – und könnte Regierungen und bewaffnete Gruppen in Syrien weiter dazu ermutigen, Zivilpersonen Kriegsverbrechen mit verbotenen wie konventionellen Waffen auszusetzen“, sagt Neistat.

Empörung zum Ausdruck bringen

Viele Opfer des Angriffs vom 4. April, der gegen 6:30 Uhr Ortszeit erfolgte, scheinen im Schlaf vergiftet worden zu sein. Fachleute für chemische Waffen, die mit Amnesty International zusammenarbeiten, bestätigten, dass die Opfer offenbar einem Nervengas bzw. einer phosphororganischen Verbindung wie Sarin ausgesetzt waren. Sie gehen nicht davon aus, dass Chlorgas verwendet wurde, wie es bei vorherigen Angriffen mit chemischen Waffen im Syrien-Konflikt der Fall war.

„Der Einsatz chemischer Waffen ist nach dem humanitären Völkerrecht streng verboten und stellt ein Kriegsverbrechen dar. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Empörung zum Ausdruck bringen und alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreifen, um das syrische Volk und die Menschen weltweit vor derartigen Gräueltaten zu schützen“, sagt Neistat.

Beweisvideos geprüft

Amnesty International konnte mehr als 25 Videos prüfen, die nach dem Chemiewaffenangriff aufgenommen wurden. Auf einigen Videos konnten Fachleute Opfer mit stark verkleinerten Pupillen ausmachen, die als klassisches Symptom für eine Vergiftung mit Nervengas gelten. Es liegen Berichte über medizinisches Personal mit Symptomen einer Sekundärexposition vor, was ebenfalls auf den Einsatz eines Nervengases hindeutet.

In einigen Videos zeigten Opfer keine Zuckungen oder abrupte Bewegungen, nach einhelliger Meinung der Sachverständigen Anzeichen einer schweren Vergiftung. In anderen hingegen – darunter auch Videos mit Kindern – sieht man die Betroffenen zittern.

Ein Video, dessen Inhalt zusammen mit anderen verfügbaren Inhalten von Amnesty International bestätigt wurde, zeigt neun Kinder, die leblos auf der Ladefläche eines Kleinlasters liegen. Die kleinen Mädchen und Jungen sind nackt oder nur teilweise bekleidet; wie es aussieht, starben sie in ihren Betten. Ihre Körper weisen keinerlei sichtbare Verletzungen auf – ebenfalls ein Indiz für eine Vergiftung durch chemische Stoffe.

Einige Videos, die nach dem Angriff in medizinischen Einrichtungen gemacht wurden, zeigen Menschen, die wegen Atemproblemen behandelt werden, sowie weitere Bilder toter Kinder und Erwachsener. Auch sie weisen keine sichtbaren Spuren blutiger Wunden oder Verletzungen durch Bombensplitter auf.

Interviews mit medizinischen Fachkräften in Idlib

Amnesty International hat mit einem Krankenpfleger gesprochen, der am Morgen des Angriffs im Al-Rahma-Krankenhaus Dienst hatte. Er erinnert sich, gegen 6:20 Uhr, während seiner Kaffeepause, auf die Uhr geschaut zu haben. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles ruhig.

Das Explosionsgeräusch war anders als sonst – meine Kollegen und ich dachten schon, dass [die Bombe] dieses Mal nicht hochgegangen war, weil es so dumpf klang, gar nicht nach einer Explosion. Ein paar Minuten später, so gegen 6:35 Uhr, wurden die ersten Opfer hereingebracht – und das ging dann so weiter bis ungefähr 9:00 Uhr. Es wurden sehr viele Menschen und Helfer hereingebracht, und wir Mediziner waren zu diesem Zeitpunkt nur zu viert, und noch dazu hat sich einer von uns auch angesteckt.

Diensthabender Krankenpfleger im Al-Rahma-Krankenhaus

Der Krankenpfleger beschreibt auch unbekannte Symptome:
„Der Geruch nach verfaultem Essen war bis in unsere Medizinstation zu riechen. Wir hatten vorher schon Chlorgasopfer, aber dies war ganz etwas ganz Anderes. Den Betroffenen lief Erbrochenes aus Nase und Mund, das eine dunkelgelbe bis braune Farbe hatte. Es gab Atemlähmungen – daran starben die Kinder schneller als die Erwachsenen. Wir haben es mit Injektionen versucht … aber das hat einfach nicht funktioniert. Die Opfer konnten nicht schlucken, sie waren bewusstlos und zeigten absolut keine Reaktion.“

Ein Arzt, der in einer chirurgischen Fachklinik in etwa 50 Kilometer Entfernung vom Angriffsort arbeitet, berichtete ebenfalls über den Vorfall:
„Zuerst wurden die Opfer in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht. So war es bereits etwa 8:00 Uhr, als sie zu uns kamen. Der Angriff hatte genau gegen 6:42 Uhr stattgefunden. Die Zahl der Opfer, darunter 70 Tote, hat mittlerweile etwa 400 erreicht, die auf die verschiedenen medizinischen Einrichtungen verteilt und zum Teil in die Türkei gebracht wurden. Die meisten Opfer, die zu uns kamen, lebten noch. Die, die bereits gestorben waren, kamen nicht mehr zu uns. Zwei Personen starben hier im Krankenhaus.“

„Die Opfer trafen in unterschiedlichen Stadien ein – einigen von ihnen litten unter Muskel- und Atemlähmungen, und wir haben versucht, sie mit Beruhigungsmitteln und Atropin zu behandeln. Aus Mund und Nase kam weißer Schaum. Einige waren vollkommen bewusstlos oder hatten starke Muskelschmerzen.“

„Kinder sterben als Erstes, sie kommen nicht dagegen an. Wir hatten nur ein Kind; es hat überlebt, Gott sei Dank.“

Mehrere Angriffe mit chemischen Waffen

„Das ist der tödlichste Angriff mit chemischen Waffen in Syrien, seitdem der UN-Sicherheitsrat im September 2013 die Resolution 2118 zur Vernichtung von Syriens Chemiewaffen verabschiedet hat“, sagt Amnesty-Mitarbeiterin Neistat.

„Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen und die UN haben bestätigt, dass es seither sowohl aufseiten der Regierung als auch der anderen Kräfte mehrere Angriffe mit chemischen Waffen gegeben hat. Es ist schrecklich, dass bisher niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.“

Hintergrund

Chan Scheichun ist eine Kleinstadt an der Straße nach Damaskus im ländlichen Idlib, eine der wenigen Regionen im Nordosten Syriens, die sich noch unter der Kontrolle der oppositionellen Kräfte befinden. In den vergangenen Monaten ist Idlib zum Sammelpunkt für alle geworden, die vor der Gewalt in Aleppo und anderswo flüchten.

Seit 2012 hat es hier vereinzelte Bombenangriffe durch syrische Artilleriestellungen und Flugzeuge gegeben. In jüngster Zeit haben die Bombenangriffe nach einer Überraschungsoffensive durch bewaffnete oppositionelle Gruppen in Hama zugenommen. Auch Flugzeuge der US-geführten Koalition haben im Gouvernement Idlib Angriffe geflogen.

Amnesty International hat wiederholt an den UN-Sicherheitsrat appelliert, dem Teufelskreis der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Lage in Syrien zur Strafverfolgung an den Internationalen Strafgerichtshof zu verweisen. Im Februar 2017 legten Russland und China ihr Veto gegen einen Resolutionsentwurf des Sicherheitsrats ein, der die Auferlegung von Maßnahmen nach Kapitel VIII für den „unerlaubten Transfer chemischer Waffen oder jedweden Einsatz chemischer Waffen durch eine beliebige Partei in der Syrischen Arabischen Republik“ vorsah. Dieser Angriff dient auch als düstere und unglückliche Mahnung an die Staaten Europas, die in Brüssel zusammenkommen, um über den Wiederaufbau in Syrien zu beraten, dass im Zentrum aller Diskussionen zur Zukunft des Landes der Einsatz für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht stehen muss.

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